Meinung: Ein Reform-Ruck muss durch das Land gehen

Die Koalition zettelt einen Steuerstreit an, bevor sie die nötigen Reformen bei Rente und Co. angeht. Aber sollte der Staat nicht Ausgaben senken, wenn Einnahmen nicht reichen?

Manchmal hilft ein Blick in die Verhaltensbiologie, um zu verstehen, was in Politik und Wirtschaft passiert: Reflexe sind automatisierte Reaktionen, die dem Menschen das Überleben sichern sollen. Und genauso – nämlich völlig reflexhaft – verläuft auch die Diskussion um Steuern und Sozialsysteme, die nun losgebrochen ist. Der Sozialstaat sei „so nicht mehr finanzierbar“, sagte Kanzler Friedrich Merz zuletzt. Und fast alle Beteiligten stimmen zu, dass Rente, Krankenkassen, Pflege, Bürgergeld und Wohngeld irgendwie dringend reformiert werden müssten. Und zwar jetzt, im „Herbst der Reformen“, den die Koalition ausgerufen hat. Nur, wie die genau aussehen sollen, darüber entbrennt nun der Streit.

Die erste Idee kam von Finanzminister Lars Klingbeil von der SPD: Die Steuern müssen rauf, für die Reichen zumindest. Inzwischen präzisierte er: Alleinlebende mit mehr als 20.000 Euro Einkommen im Monat, also rund 240.000 Euro Jahresbruttoverdienst, sollten künftig stärker zur Kasse gebeten werden. Derzeit gilt ab 277.800 Euro der Reichensteuersatz von 45 Prozent. Den will der SPD-Minister offenbar anheben. Und sofort gab es die Reflexe des Regierungspartners:

Mit CDU und CSU seien solche Steuererhöhungen „definitiv nicht“ zu machen, polterte zuerst CSU-Chef Markus Söder und einige Unionspolitiker stimmten ein. Gerade für „den Mittelstand“, also „die Fleißigen“ in diesem Land seien höhere Steuern Gift. Für die Konjunktur ebenfalls. „Der Mittelstand muss entlastet werden“, forderte umgehend auch Kanzler Merz. So sehr man sich dieser Forderung auch anschließen muss – muss man nicht an dieser Stelle trotzdem ein dickes Fragezeichen dahinter setzen? Oder zumindest einmal darüber diskutieren, wer eigentlich dieser Mittelstand ist?

Wer ist überhaupt diese Mitte?

Mit welchem Einkommen man hierzulande zu den Schlecht-, Mittel- und Bestverdienern gehört, hat das Institut der deutschen Wirtschaft IW aus aktuellen Zahlen ermittelt und die Ergebnisse in ein anschauliches Rechentool gepackt. Für einen Ein-Personen-Haushalt gilt demnach: Vollzeit-Erwerbstätige haben im Mittelwert (Median) 2770 Euro netto zur Verfügung (jeder Zweite hat also mehr, die andere Hälfte weniger). Das entspricht einem Bruttoeinkommen von gut 4000 Euro. Mit einem Netto-Monatseinkommen von 5780 Euro gehören Alleinlebende bereits zu den vier Prozent Reichsten. Also mit etwa 10.000 Euro Monatsbrutto. Wer als Alleinlebender 20.000 Euro brutto verdient – also laut den Plänen künftig höher besteuert werden könnte – der trägt netto rund 11.300 Euro jeden Monat nach Hause. Dieses Einkommen bildet der IW-Rechner schon gar nicht mehr ab, weil es bei Ein-Personen-Haushalten offenbar so selten ist.

Bei Vier-Personen-Haushalten beträgt der Median übrigens 3880 Euro netto, und die reichsten vier Prozent der Familien haben 17.200 Euro netto monatlich zur Verfügung. Paar-Haushalte haben im Mittel 3500 Euro netto und gehören ab 8670 Euro netto zu den reichsten vier Prozent ihrer Kategorie. 

Die Union setzt also alles daran, die absoluten Topverdiener vor höheren Steuern zu bewahren. Und behauptet einfach, sie gehörten alle noch zum Mittelstand. Wohin das zielt, ist klar: Es suggeriert die Gefahr, dass künftig wirklich der Großteil der Gesellschaft stärker zur Kasse gebeten würde, sollten die Steuerpläne so umgesetzt werden. Und davor haben fast alle Angst, verständlicherweise. Wenn man sich nämlich die Quote aus Steuern und Abgaben ansieht, dann ergibt sich anhand gängiger Brutto-Netto-Rechner folgendes Bild: 

Wer hierzulande als Alleinlebender übersichtlich verdient (rund 3000 Euro brutto im Monat), der gibt auch nur knapp 32 Prozent davon an Staat und Sozialkassen ab. Verdient er mittelgut (also jene 4000 Euro brutto im Monat), sind es ziemlich genau 35 Prozent. Bei 6000 Euro brutto, also einem ordentlichen – aber nicht gerade übermäßigen – Verdienst sind es bereits üppige 40 Prozent. Bekommt man aber mehr als dreimal so viel, jene 20.000 Euro also, steigt die Abgabenquote nur noch unwesentlich auf 43,6 Prozent. Erinnert sich eigentlich noch jemand an die 90er-Jahre? Damals lag der Spitzensteuersatz in Deutschland noch bei 56 Prozent. 

Der Staat muss bei sich selbst anfangen

Es wäre an der Zeit, die mittleren Einkommen im Vergleich zu den oberen deutlich zu entlasten. Das sollte aber wohlgemerkt nur der erste Schritt sein. Denn nicht die Einkommen der Bürger und die von ihnen gezahlten Steuern sind das wahre Problem, sondern das Verhältnis von Einkommen zu Ausgaben beim Staat. Dazu sehe man sich einmal das Gesamt-Steueraufkommen der vergangenen Jahre an: 2020 sammelte der Staat noch 739 Milliarden Euro mit Steuereinnahmen ein, 2024 waren es bereits 948 Milliarden Euro. Das war sozusagen eine „Gehaltssteigerung“ um 28 Prozent in nur fünf Jahren beim Fiskus. Beschäftigte bekamen übrigens im Schnitt nur 16 Prozent mehr Gehalt im gleichen Zeitraum. 

Dennoch bekommt der Staat es trotz stark steigender Einnahmen nicht hin, seine Ausgaben davon zu bestreiten. Jedem Gutverdiener würden Finanzberater in so einem Fall raten: Du lebst über Deine Verhältnisse, also guck Dir dringend Deine Ausgaben an! Das Ziel des Finanzministers sollte nicht sein, durch mögliche Mehreinnahmen aus den Schulden herauszuwachsen. Es muss sein: Durch weniger Konsum mit den Einnahmen auszukommen. Und zwar jetzt.

Für Rente, Gesundheit und Bildung muss sie Geld ausgeben. Das sind sozusagen die unvermeidbaren Lebenshaltungskosten des Staates. Ob sie es sich aber noch länger leisten kann, für teure Extras ihr Steuergeld zu verpulvern, das sollte die erste und wichtigste Frage sein. Der Staat gibt Milliarden aus für vorgezogene Renten, Mütterrenten, versicherungsfremde Leistungen im Krankenkassensystem, für allerlei Subventionen, Pendler- und Dienstwagenpauschalen, zahlt plötzlich Milliarden an Wohngeld und Bürgergeld. All das ist sozial gedacht, aber ist es noch machbar? Sollte nicht hier einmal der Reflex der Regierung einsetzen? Reflexe sollen Organismen anpassungsfähig halten. Und damit überlebensfähig. Manchmal muss man lernen von der Natur.

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