Kolumne: Ganz naher Osten: Der Osten zuletzt

Was von der DDR und der Volkskammer übrig blieb – oder: Warum sich die Ostdeutschen zumindest diesmal ihr Repräsentationsdefizit selbst mit herbei gewählt haben.

Natürlich könnte ich jetzt davon erzählen, wie es war, als ich am 18. März 2025 in der dritten Etage des Reichstagsgebäudes saß, unter der riesigen, von der Frühlingssonne beschienenen Glaskuppel. Ich könnte davon berichten, wie ich den Abgeordneten des alten, 20. Deutschen Bundestags dabei zuschaute, wie sie in ihre Fraktionssäle gingen, um sich auf die Abstimmungen über das billionenschwere Schuldenpaket vorzubereiten.

Und ich könnte beklagen, was unbedingt beklagt werden muss. Dass CDU und CSU mit ihrem Ein-Billion-Schuldenbeschluss glatten Wortbruch begangen haben. Dass ein de facto abgewähltes Parlament mal eben das Grundgesetz ändert. Und dass dieses Verhalten vor allem das Vertrauen der ostdeutschen Menschen in die politischen Institutionen zusätzlich destabilisiert. 

Die DDR und ich feierten gemeinsam Premiere

Aber nee, da schreibe ich doch lieber davon, was ich am 18. März 1990 tat. Es war meine erste Parlamentswahl. Und weil mich das Glück auch geburtstechnisch bedacht hatte, war die Abstimmung frei, gleich und geheim. Die DDR und ich feierten gemeinsam Premiere. 

Das Wahllokal befand sich in der Dorfschule, in die ich ein paar Jahre zuvor gegangen war und die in einigen Jahren schließen würde. Aber das konnte noch niemand ahnen.

Da ich mein Wahlgeheimnis schon mehrfach verraten habe, teile ich hiermit noch einmal mit, dass ich zur Volkskammerwahl das Bündnis 90 wählte – also die vereinten Bürgerrechtler, die nur wenige Wochen zuvor die Runden Tische dominiert und Stasi-Quartiere besetzt hatten, und die trotz meiner Stimme nun auch offiziell zur Splitterkraft schrumpften.

Auch die SPD, die sich erst im Oktober 1989 als SDP neu gegründet hatte, erhielt längst nicht so viele Stimmen wie vorhergesagt. Sie landete abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Stattdessen gewann die CDU, also jene Partei, die bis in den Herbst 1989 der SED in der Nationalen Front als Machtinstrument dienstbar gewesen war. 

Die Blockpartei hatte sich mit der Neugründung DSU zusammengetan, die sich wie eine besonders rechte CSU gebärdete, und sich dazu mit der Bürgerrechtsklitsche „Demokratischer Aufbruch“ geschmückt. Die kurzlebige „Allianz für Deutschland“ versprach alles, was die allermeisten Menschen wollten: Freiheit, Sicherheit, Wohlstand, Einheit und natürlich die D-Mark. Und das alles ganz, ganz schnell. Fünf Jahre würde der real existierende VEB-Sozialismus brauchen, um neu-kapitalistisch zu erblühen. Höchstens. 

Die Wähler ließen sich nicht davon stören, dass ein Großteil der CDU-Kandidaten sogenannte Blockflöten waren und sogar einige davon unter Stasi-Verdacht standen. Und es war ihnen erst recht egal, dass der Wahlkampf von der West-CDU bezahlt und von Bonn gesteuert wurde. Die Menschen wollten unbedingt den Populismus der wendehälsigen Union nebst Anhängseln glauben – und keinesfalls etwas von drohender Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und sonstigem Transformationsschmerz hören.

Genau 35 Jahre ist die erste und letzte freie DDR-Volkskammerwahl jetzt her. Wenn man die Dinge von heute aus betrachtet, wählten schon damals sehr viele Ostdeutsche eine Partei, die ihnen erzählte, dass sie die westlichen Werte plus Wohlstand umsonst bekämen, und den Frieden noch obendrauf. Als Resultat wurde das sogenannte Beitrittsgebiet mit den nachfolgenden Landtags- und Bundestagswahlen beinahe durchgehend schwarz – wobei auch die zur PDS mutierte SED auf zweistellige Ergebnisse kam, die sie in den folgenden Jahren stark ausbauen würde. 

So gesehen ist das ostdeutsche Wahlverhalten konstant geblieben. Viele der Menschen, die lange der CDU ihr Versprechen glaubten oder bei der PDS ihren Protest abluden, stimmen nun für AfD und BSW. Auch diese beiden Parteien versprechen ja absolute Freiheit, Wohlstand für alle und den Weltfrieden noch dazu. 

Darüber hinaus, und das ist der entscheidende Unterschied, leben sie aber zusätzlich noch von dem, was sich von der DDR erhielt oder vererbte: der Autoritarismus, der Antiamerikanismus und die Angewohnheit, sich lieber nicht selbst zu engagieren. Nebenbei vereinnahmt die AfD bei Nichtwählern oder früheren NPD- und DVU-Anhängern das gesamte extreme Potenzial, das im Osten schon immer etwa doppelt so hoch war wie im Westen.  

Als sich Alexander Gauland noch in der CDU pudelwohl fühlte

Dennoch bedeutet dies nicht, dass die Union von damals, auch wenn sich Alexander Gauland in ihr noch pudelwohl fühlte, die AfD von heute ist. Denn trotz aller Irrtümer und Fehlleistungen setzte sich auch die West-CDU jenseits ihrer – stets prioritären – Eigeninteressen dafür ein, dass der Osten nicht den Anschluss verlor. Somit profitierten die Ostdeutschen trotz aller Enttäuschungen, Demütigungen und Benachteiligungen unterm Strich von ihrem Wahlverhalten. 

Und ja, selbst die Erfolge der PDS gerieten den Ostdeutschen zum Nutzen. Sie statteten die CDU- oder SPD-Ministerpräsidenten von Sachsen, Brandenburg oder Sachsen-Anhalt mit dem nötigen Druck aus, um einen zweiten Solidarpakt zu verhandeln und Förderprogramme zu erhalten. Der Protest zahlte sich also aus, und dies im Wortsinn.

Zwischenzeitlich schien sich sogar etwas beim ostdeutschen Repräsentationsdefizit zu tun. Dass gleichzeitig eine in der DDR sozialisierte Kanzlerin neben einem wendebewegten Bundespräsidenten amtierte, änderte zwar wenig am strukturellen Ungleichgewicht. Aber es stärkte das fragile Selbstwertgefühl im Osten.  

Das alles ist nun anders. In Ostdeutschland ist mit der AfD eine Partei der Hegemon, die nicht für die staatstragende Mitte steht, sondern für den staatsfernen Rand. Die Folgen sind ausschließlich negativ, für die Investitionen, für die Zuwanderung von Fachkräften – und für die politische Repräsentation. Der Osten kommt zuletzt.

So hat es zwar immer noch mit der beklagenswerten Ignoranz der westdeutsch dominierten Parteien zu tun, dass disproportional wenige Ostdeutsche an den Koalitionsverhandlungen teilnehmen oder gar für Führungsposten gehandelt werden, weshalb auch ostdeutsche Themen kaum Berücksichtigung finden. Aber es liegt eben diesmal auch daran, dass die meisten ostdeutschen Bundestagsabgeordneten nicht mehr in der CDU und der SPD sitzen – sondern in der AfD. 

Und so muss sogar ich, der in dieser Kolumne oft und gerne in den traditionellen Klagegesang der Neufünfländer einstimmt, ausnahmsweise eingestehen: selber schuld.

Alle bislang erschienenen Kolumnen von Martin Debes finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert