Die Klassikwelt blickt erstaunt auf Hamburg: Nach der Elbphilharmonie kommt ein neues Opernhaus. Und schon jetzt ein neues Dream Team, das voll auf Risiko setzt
Seit Längerem gilt Hamburg als Ort für großes Theater, als Musical-Hauptstadt, mit der sagenhaften Elbphilharmonie glänzt es international als Musikmetropole. Während in Berlin und anderen Bundesländern eingespart wird, investiert die Hansestadt 2025 elf Prozent mehr in Kultur als im Vorjahr, insgesamt 460 Millionen Euro. Im Ranking der „New York Times“ für touristische Hotspots hat Hamburg die Hauptstadt gerade abgelöst.
Hamburgs Oper: progressive Personalien
Seitdem bekannt ist, dass die Stadt durch eine Schenkung eines der Reichsten aller Deutschen, Klaus-Michael Kühne, ein spektakuläres Opernhaus in der Hafencity hochziehen wird, ist sie auch in der Opernwelt in aller Munde. Bevor das neue Gebäude entsteht – es wird der sechste Bau in der 350-jährigen Geschichte der Hamburgischen Staatsoper sein –, erneuert sich die Institution aber zunächst einmal von innen.
Die neuen Personalien kommen progressiv daher. Nicht nur, weil mit Tobias Kratzer ein queerer Opernchef anheuert. Es scheint wie eine Ironie der Geschichte, dass mit Omer Meir Wellber aus der Beduinenstadt Be’er Scheva am Rande der Negev-Wüste ein israelischer Dirigent und Nachfahre von NS-Verfolgten vermutlich das Haus leiten wird, wenn es in einen Bau zieht, der aus dem Vermögen einer Firma finanziert wurde, die in der Zeit des Nationalsozialismus groß geworden ist. Die Spedition Kühne + Nagel soll laut Recherchen des amerikanischen Magazins „Vanity Fair“ reich geworden sein, indem sie geraubtes Hab und Gut ermordeter Juden quer durch Europa transportierte.
Maestro, sagt Ihnen der Name Shirin David etwas?
Omer Meir Wellber: Ich muss gestehen, nein. Wer ist das?
Tobias Kratzer: Eine deutsche Rapperin, die regelmäßig auf Platz eins der Charts ist. Ich weiß auch, warum Sie nach Ihr fragen. Shirin David war als Kind auf der Ballettschule der Hamburgischen Staatsoper, Kinderdarstellerin in verschiedenen Inszenierungen.
Kompliment, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht!
Kratzer: Wir haben Shirin David sogar gefragt, ob Sie für eine Produktion oder Zusammenarbeit ans Haus zurückkehren würde, vielleicht klappt es für die nächste Spielzeit.
Womit der Spirit ihrer Intendanz gut umrissen wäre: Sie wagen viel Crossover, Experimente und riskante Projekte. Herr Wellber glaubt sogar, Hamburg könne das neue Berlin werden. Wie meinen Sie das?
Wellber: Kultur ist der Markenkern Berlins, die Menschen kommen für die Kultur in diese Stadt, nun soll ausgerechnet daran massiv gespart werden. Die Hauptstadt hatte damit ein Alleinstellungsmerkmal, das nun heruntergewirtschaftet wird. Hamburg macht das Gegenteil, investiert mehr Mittel in Kultur.
Kratzer: Wenn Sie sagen, unser Programm wäre riskant, müssen Sie wissen, dass dies seitens der Kulturbehörde Hamburgs, namentlich Senator Carsten Brosda, ausdrücklich gewünscht wird. Genau dafür wurden wir geholt. Ich habe mir Geschichte und DNA dieses Hauses genau angeschaut und ein Programm konzipiert, eine Vision, die wie ein Leuchtturm weit über Hamburg hinausstrahlen soll.
Herr Wellber, ich muss Sie das fragen: Wie können Sie als Israeli und Nachfahre deutscher Juden einen Opernbau gutheißen, der aus einem Vermögen gespendet wird, das aus einer NS-belasteten Firma stammt?
Wellber: Die Herkunft dieses Vermögens lässt sich nun einmal nicht mehr verändern. Es ist in einer Oper sinnvoller angelegt, als würde es in einer Stiftung in der Schweiz verbleiben. Ich halte diese Debatte für wenig zielführend, gerade aufgrund meiner Familiengeschichte. Meine Eltern sprechen Jiddisch, Deutsch lehnten sie kategorisch ab. Es war für sie nicht leicht, als ich nach Deutschland gegangen bin. Ich muss damit umgehen, dass die Dinge nicht schwarz oder weiß sind.
Sie haben Klaus Michael Kühne persönlich kennengelernt, Herr Kratzer?
Kratzer: Ja, ein sehr freundlicher Herr, der enthusiastisch ist, eine Oper zu bauen. Ein Mäzen, wie er im Buche steht.
Sie übernehmen als israelischer Staatsbürger einen der wichtigsten künstlerischen Posten des Landes, während die Kulturszene von Pro-Palestine-Stimmen überrannt wird, Herr Wellber. Wie empfinden Sie das?
Wellber: Mich beschäftigt das sehr, aber anders als Sie vielleicht denken. Ob ich esse, atme, musiziere – alles wird von den Ereignissen des 7. Oktober 2023 und seinen Folgen überschattet. Aber als Künstler muss man 100 Prozent geben. Wie soll das gehen, wenn einen der Schmerz über den Terror festhält?
Die Staatsoper war viele Jahre ein international renommiertes Haus, zuletzt wirkte der Betrieb eingeschlafen, viele Zuschauerreihen blieben leer. Fiel es ihnen schwer, als Dirigent so anerkannte Opernhäuser in Palermo oder in Wien zurückzulassen?
Wellber: Es ist eine Herausforderung, keine Frage.
Kratzer: Ich hatte mich mit dem Orchestervorstand getroffen, um über den künftigen Generalmusikdirektor zu sprechen. Es gab eine Wunschliste mit einer klaren Nummer eins, die sich mit meiner deckte. Also haben wir Omer Meir Wellber kontaktiert, kurz vor Weihnachten 2022 bin ich nach Palermo gereist, es war wie ein Date. Wir waren in einer Nussknacker-Vorstellung, haben bis spät in die Nacht über Ideen gesponnen. Es fühlte sich sofort gut an und nach einer perfekten Partnerschaft. Wir erlauben einander Freiräume und autonome Projekte.
Als Generalmusikdirektor der Staatsoper Hamburg und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg werden Sie auch in der Elbphilharmonie dirigieren, die für ihr durchmischtes, touristisches Publikum berühmt und auch berüchtigt ist …
Wellber: Ich weiß das, ich habe dort schon häufig dirigiert. Oft wird an Stellen geklatscht, wo es unüblich ist. Ich empfinde das als positiv, die Leute genießen das Erlebnis und haben offensichtlich Spaß daran. Meine eigene Tochter ist übrigens ähnlich, sie hat in Palermo vom Balkon aus in eine Carmen hineingeklatscht. Ich liebe Spontanreaktionen, weil sie ehrlich sind und von Herzen kommen.
Das Prinzip des klassischen Musentempels ist in den vergangenen Jahren in Verruf geraten.Es gibt Stimmen, ob aus der untersubventionierten freien Kulturszene aber auch von Bürgerinitiativen, die hohe Subventionen für die Hochkultur kritisieren. Können Sie das nachvollziehen?
Kratzer: Wenn es diese elitären Zirkel, die da als Feindbild existieren, wirklich gäbe. Das klassische Bildungsbürgertum, das automatisch Opernhäuser füllt, um die immer wiederkehrenden Hits der Operngeschichte zu hören, existiert kaum noch. Ich sehe das als Chance, jedes Projekt muss auf seine Weise wirken und überzeugen. Deshalb setzen wir auf ein Programm, das möglichst viele Menschen gemeinsam neu erleben. Unser Ziel ist es, zu überraschen und die alten Bubbles zu sprengen. Wir wollen Diversität im Publikum, was bedeutet, dass alle Altersgruppen und Milieus angesprochen werden. Im Gegensatz zu Berlin oder Wien hat Hamburg nur ein Opernhaus und nicht drei, insofern sind wir, so grässlich dieser Begriff klingt, Vollversorger.
Wellber: Unser Job ist es nicht, Menschen davon zu überzeugen, einmal in die Staatsoper zu kommen, sondern zweimal, und immer wieder. Gerade in Deutschland muss Oper nicht elitär sein, jeder kann sich eine Karte leisten. In Italien ist das anders, in den USA ohnehin, dort kosten Tickets ein Vielfaches.
Der Feuilleton-Kollege einer großen Tageszeitung bekam während Ihrer Pressekonferenz Schnappatmung, als Sie ein Programm voller unbekannter Produktionen präsentierten.
Kratzer: Warten wir ab, was ein Hit wird und was nicht. Mein beim Publikum erfolgreichstes Stück der vergangenen Jahre war Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“, das ist Hardcore-Zwölftonmusik, hochpolitisches Libretto aus dem Jahr 1968. Ausgerechnet das wurde zum Publikumshit.
Das passt auch zu den Opern, die Sie für Kinder anbieten – von Karlheinz Stockhausen und Iris ter Schiphorst. Ist das wirklich das Programm, mit dem man Sechsjährige begeistert?
Kratzer: Das sind faszinierende Klangwelten, denen man am besten ganz unvoreingenommen begegnet. Kinder sind vielleicht das beste Publikum dafür. Man muss nicht die siebentausendste Kurzfassung der Zauberflöte machen. Ich komme selbst aus keinem opernaffinen Elternhaus, sie sind Mathematiker und Physiker, mir wurde als Kind alles mögliche angeboten. Mein erster Opernbesuch war ein nicht besonders guter „Freischütz“ in Landshut. Vielleicht ist es das Geheimnis meines Erfolges, dass ich seitdem versuche, es besser zu machen.
Herr Wellber, wie war das in Be’er Scheva am Rande der israelischen Negev-Wüste?
Wellber: Anders als in Oberbayern. Ein prägendes Erlebnis war für mich, in ein Kindertheater zu gehen, in das auch wirklich nur Kinder durften. Es war der erste Moment in meinem Leben, in dem ich Autonomie verspürte. Daran wollen wir mit „Kids Only“-Aufführungen anschließen.
Ihre erste Oper?
Wellber: Keine klassische Kinderoper, „Wozzeck“ von Alban Berg, es ist insofern ein Wunder, dass ich in diesem Beruf gelandet bin.
Tobias Kratzers berühmteste Inszenierung ist der schrille Tannhäuser mit einer schwarzen Dragqueen, die seltsamerweise auch von strengen Wagnerianern gemocht wurde. Lässt sich so ein Erfolg wiederholen?
Das hat mich allerdings selbst gewundert. So etwas ist nicht planbar. Als ich der Bayreuth-Intendantin Katharina Wagner damals mein Regie-Konzept präsentierte, hat sie sofort begriffen, was ich will und warum es das braucht, um das Stück nach vorne zu bringen und das Schicksal Tannhäusers nahbar zu machen. Was ich aus dieser Erfahrung mitnehme, ist das Gemeinschaftserlebnis, das die Inszenierung stiften konnte.
Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Inszenierung in Bayreuth: Opern-Dragqueen Le Gateau Chocolat soll auch in Hamburg auftreten
© Tobias Hase
Hamburg war lange Zeit Deutschland Hauptstadt der Dragqueens, Penny Lane, eine bekannte Drag-Darstellerin auf St. Pauli, arbeitete im Brotberuf sogar als Cellist in der Staatsoper. Wird die neue Opernära queer sein?
Kratzer: Mal sehen, warum nicht? Ich habe Le Gateau Chocolat, die nigerianische Drag aus dem Bayreuther Tannhäuser, jedenfalls eingeladen und hoffe, sie wird mit Omer am Akkordeon für uns singen.
Herr Wellber, mit ihrer Akkordeon-Leidenschaft passen Sie gut in die Hafenstadt. Wie kam es dazu – und beherrschen Sie La Paloma, die heimliche Hymne der Stadt?
Natürlich! Ich spiele gerne mit meinem Orchester, das ist immer besser, als nur zu dirigieren. Vielleicht hat auch Mozart deshalb immer selbst musiziert und gleichzeitig dirigiert. Man lernte dabei die anderen Musiker erst richtig kennen.
Sie sind als Dirigent also Primus inter Pares?
Wellber: Das klingt immer so gut, aber ich will diesbezüglich ehrlich sein: Wir wollen zusammen auf Augenhöhe musizieren, aber künstlerisch funktioniert Demokratie nicht. Und ist auch von niemandem gewünscht. Sänger und Sängerinnen wollen nicht mitentscheiden, wo sie in einer Inszenierung stehen, sie wollen nur wissen wo. Das ist nicht autoritär, sondern die Idee unserer Arbeit. Wir entscheiden, was passiert, aber wir entscheiden das in einem positiven Klima.
Kratzer: Ich glaube Sänger:innen erleben mich als einen Regisseur, der zwar sehr genau weiß, wohin er möchte, aber innerhalb dieses Rahmens sehr flexibel ist; im Schauspiel würde man die gleiche Arbeitsweise wohl schon als deutlich einengender empfinden. Was ich damit sagen will: Diese Begriffe funktionieren nicht, weil die Bezugssysteme so unterschiedlich sind. Um Sängern die größtmögliche Freiheit und Gestaltungsmöglichkeit in ihrer Arbeit zu gewährleisten, muss ich ihnen die Form vorgeben. Mit klaren Anweisungen für die Regie, verstehe ich mich als Dienstleister.
Wellber: Ich denke es gibt mehr Sänger, die es als Zumutung empfinden, Sie mit Regie-Fragen zu behelligen, als umgekehrt.
Ihrer beider Vorbilder waren Weltstars, die einen großen Geniekult um sich pflegten: Gerard Mortier und Leonard Bernstein.
Wellber: Sie sind Vorbilder, aber nicht darin. Für mich ist Bernstein eine Inspiration, weil er einen Sinn für Folklore hatte, weil er, wie zuvor bereits besprochen, selbst Musiker war, Autor und Intellektueller, ein Allroundmusiker.
Kratzer: Das Gleiche gilt für Mortier, Intellektueller mit Sinn für das Sinnliche, für inhaltliche Relevanz. Beide genannten Künstlern eint Relevantes: höchstes Handwerk als Voraussetzung für alles, das danach kommt. Ich will Ihnen aber auch nicht vorenthalten, was mich elementar unterscheidet: Ich finde die Provokation als Selbstzweck völlig uninteressant, das ist so 20. Jahrhundert. Der Gedanke, es der Bourgeoisie im Publikum mal so richtig zu zeigen, interessiert mich Null.
Herr Wellber ist viel mehr als Musiker, nämlich selbst Schriftsteller, hat einen viel beachteten Roman veröffentlicht. Ausgeschlossen, dass Sie sich ins Gehege kommen?
Wellber: Unsere Zusammenarbeit ist mehr als ein Flirt, es darf also auch Reibung geben.
Kratzer: Ich sehe das ähnlich, wir wollen keine Fachidioten sein. Ich schätze Omers Künstlertum in seiner Gesamtheit. In unserem Genre ist es elementar, dass man auch weiß, was außerhalb der eigenen Grenzen stattfindet. Unsere Bereiche müssen ineinandergreifen.
Kratzer und Wellber beim Gespräch mit stern-Autor David Baum
© Anne Hamburger / stern
Das aufregendste Werk ihres Spielplans ist eine Uraufführung von Olga Neuwirth und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Wie haben Sie die Damen überzeugt, noch einmal zusammenzuarbeiten?
Kratzer: Leicht war es nicht, beide wollten nach schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit eigentlich nicht noch einmal. Frau Jelinek lebt inzwischen sehr zurückgezogen in Wien, damals war sie aber noch in München und ich besuchte sie, wir plauderten über True Crime. Und fanden thematisch zueinander.
Herr Wellber, ist es komplizierter, das Werk lebender Komponistinnen zu dirigieren?
Ja. Aber ich bin nicht hier, um es unkompliziert zu haben.