Der Künstler Ralf Schmerberg wollte ein kleines Atelier mieten, jetzt hat er ein gigantisches Kulturareal und lässt dort ein verloren geglaubtes Berlin-Gefühl neu erstehen.
Es ist ein großes Gewimmel, Gehämmere und Geschäftigsein in den alten Berliner Fabrikhallen, die schon lange nicht mehr als solche genutzt werden. Junge Künstlerinnen tragen Utensilien herum, Performer einer Drag-Show bereiten sich in Zivil auf ihren Auftritt vor. Oben in der früheren Umkleide der Fabrikarbeiterinnen sind alle Wände mit Fotos und Skizzen vollgehängt. Hier wird gerade an der Umsetzung einer Außenstelle der Berlin Art Week gebastelt.
Von der Kathedrale der Industralisierung zur Berliner Kulturstätte: Die MaHalla in Oberschöneweide. Nach den Plänen von Ingenieurslegende Emil Rathenau entworfen, wurden die Fabrikhallen noch in der DDR für die Produktion von Elektrogeräten genutzt
© Sven Bock
Man kommt aus dem Staunen kaum heraus, welch faszinierendes Bild sich hier im Bezirk Köpenick auftut. MaHalla gilt als vielleicht aufregendster alternativer Kulturort der Hauptstadt, liegt weitab vom Schuss, eine halbe Autostunde von Berlin-Mitte entfernt. Oberschöneweide heißt der Ortsteil, an dem sich in alten Turbinenhallen eine Szene breitmacht, wild, rau, idealistisch und chaotisch, wie man sie zuletzt im Berlin der Nachwendezeit erleben durfte.
Schmerberg macht Berlin ’ne Szene
In den letzten Jahrzehnten des deutschen Kaiserreichs war hier im Südosten Berlins zwischen Oberspree und der heutigen Wilhelminenhofstraße das Werksgelände der AEG entstanden. Von hier aus wurde die Hauptstadt elektrifiziert, im übertragenen Sinne geschieht exakt dies gerade wieder. Viele Jahre hatte das Areal samt einer beeindruckenden Turbinenhalle brachgelegen. Der Eigentümer versuchte, die verfallenden Hallen stückchenweise zu vermieten. „Eigentlich wollte ich hier ein kleines Atelier für mich finden“, sagt Ralf Schmerberg. Er war vor sechs Jahren hergekommen, um „runterzufahren, mich zu verkleinern, auch Kosten zu sparen“. Dieses Vorhaben ist ihm glücklicherweise missglückt.
Ich konnte nicht anders, als zu sagen: Vergiss das Atelier, das ist jetzt alles meins, ich muss das alles haben
Nach der erfolgreichen Besichtigung der Räumlichkeiten habe ihm der Vermieter sein neues Umfeld zeigen wollen, die größte Halle, das ganze riesige 9000 Quadratmeter große Gelände. „Es sah aus wie am Set von ‚Blade Runner‚, nur Staub, tote Maschinen und Taubenscheiße. Doch ich war sofort elektrisiert, geradezu verliebt“, erinnert er sich. „Ich konnte nicht anders, als zu sagen: Vergiss das Atelier, das ist jetzt alles meins, ich muss das alles haben.“
Mit Sterne-Koch Stephan Hentschel („Cookies Cream“) kreiert Schmerberg alljährlich das vegetarische Weihnachtsdinner „The Glow“, das traditionell zur chaotischen Gesamtperformance ausartet
Schnell war die Idee entstanden, in den alten Turbinenhallen eine ganz eigene Kulturszene entstehen zu lassen. Ein Vorhaben, das in einem Berlin, das an seinem Etat für diesen Bereich streicht und damit seinen internationalen Ruf als Kulturmetropole aufs Spiel setzt, absurd klingt – vielleicht sogar chancenlos. Doch von den massiven Einsparungen des umstrittenen CDU-Kultursenators Joe Chialo sind Schmerberg und seine Mitstreiter ohnehin nicht betroffen, sie mussten von Beginn an ohne staatliche Zuschüsse auskommen. „Als ich während des ersten Lockdowns in der Corona-Zeit die Maklerin anrief, um den Mietvertrag zu unterschreiben, dachte sie erst, ich mache einen dummen Scherz“, sagt er.
Um das außergewöhnliche, aufregend anmaßende Projekt MaHalla zu verstehen, muss man Ralf Schmerberg kennenlernen. Der 60-Jährige gebürtige Ludwigsburger hat in seinem Künstlerleben viel ausprobiert und noch viel mehr gewagt. In den 90ern kannte man ihn als Starfotografen und Regisseur von Werbefilmen oder Videoclips, er arbeitete für beinahe alles, was die Popkultur im Deutschland jener Ära prägte: Apple, Nike, Pussy Riot, Fanta Vier, die Magazine „Tempo“ und „Qvest“. Marken, Medien, Bands, Brands – Hauptsache am Puls der Zeit. „Es war aufregend und sexy ohne Ende – aber auch ziemlich flach“, sagt er.
Ein Werbefilmer, der mit dem Kommerz hadert
Schließlich wandte er sich vom Kommerz ab, um einen Kontrapunkt zum Zeitgeist zu setzen. Er drehte einen Film, der keiner sein sollte. „Poem“ war eine Aneinanderreihung von Kurzfilmen, die jeweils ein Gedicht der deutschen Literatur filmisch umsetzten. Klaus Maria Brandauer sprach Heinrich Heine, Jürgen Vogel Ingeborg Bachmann, Hannelore Elsner Kurt Tucholsky, Meret Becker Hilde Domin – jeweils von Schmerberg kunstvoll in Szene gesetzt. Schon damals misslang ihm ein Versuch, dem Hype zu entkommen. Der Kunstfilm geriet zum Medienspektakel, deutsche Lyrik war plötzlich obercool. „Für mich war es eine Begegnung mit der deutschen Sprache in ihrer ganzen Poesie, das bleibt bis heute“, sagt er.
Zurück ins Jahr 2025, auf das Fabrikgelände in Köpenick. Unten in der Halle haben die Tänzer des Drag-Ensembles den als Diskokugel verkleideten alten Mercedes für sich entdeckt. Schmerberg schaut von oben aus dem Fenster der Umkleide der AEG-Arbeiterinnen zu. Hier lebt und arbeitet er auch. Er hat es zu seinem Kreativzentrum gemacht, Atelier und Zen-Room in einem. Neben seinen Skizzen, Fotoarbeiten und einem wilden Arbeitstisch sind die Räumlichkeiten von esoterischen Artefakten geprägt. Auch das Programm der MaHalla weist spirituelle Züge auf. Etwa Dancefloor-Meditation bei der „Pyramid Party“ am 27. April oder der Veranstaltungsreihe „Sanctum of Sound“, für die das MaHalla-Team jeden ersten Sonntag im Monat ein zehnstündiges Soundset sakraler Musik zusammenstellt. Diese Prägung hat ihren Grund und ihre Geschichte.
Sprituelles Musikfestival „Sanctum Of Sound“. Der als Diskokugel verkleidete Mercedes-Benz ist zum Maskottchen des Kulturporjekts geworden
© Sven Bock/MaHalla
Schmerberg war in seiner Jugend Sannyasin, also ein Anhänger des Gurus Osho, besser bekannt als Bhagwan. Als Teenager war er dem Ruf des Sektenführers gefolgt, wie viele andere, die heute als bedeutende Denker gelten, etwa der Philosoph Peter Sloterdijk, der von seiner persönlichen „Osterweiterung der Vernunft“ sprach. Auch Schmerberg verleugnet diese Lebensphase nicht, ganz im Gegenteil. „Ohne diese Erfahrung könnte ich das, was ich heute mache, nicht umsetzen“, sagt er. Es sei sein Weg in den Internationalismus gewesen, „meine Universität für spirituelle Ideen“. Als sich die Sekte von der erleuchteten Hippie-Truppe zum „bewaffneten American Business Club“ wandelte, sei er als damals 22-Jähriger bereits auf anderen Pfaden unterwegs gewesen.
Heute ist in Berlin-Mitte alles sehr langweilig und steril
Ein bisschen Wahn und Gottvertrauen braucht man wohl auch, um ein Projekt wie MaHalla zu wagen. Hier hat allerdings ein ganz anderer Geist Einzug gehalten – der verloren geglaubte Spirit des Berlins der Nachwendezeit, der für einige Jahre durch die Straßen, Hinterhöfe, Katakomben und Ruinen wie dem Tacheles getobt war und eine Szene von Weltruf begründet hatte. „Heute ist dort alles sehr langweilig und steril“, sagt Schmerberg. Deshalb wollte er auch an die Ränder der Stadt, raus aus der Komfortzone seines schicken Studios am Halleschen Tor.
Hier in den Fabrikhallen von Oberschönweide haben viele ihre neue Mitte gefunden. Die Hallen scheinen schier unendlich, jeder Raum eine neue kleine Welt für sich. Viele Ateliers mit unterschiedlichster Kunst, Projekte von Freiwilligen und Freidenkenden. MaHalla hat mit dem „Fetzenmarkt“ eine eigene Fashion Week auf 4.500 Quadratmeter Fläche etabliert, wo von Secondhand bis junger High Fashion alles seine Berechtigung hat. Im vergangenen Jahr lieferte sie im Rahmen der Berlin Art Week ein fünftägiges Kunstfestival. „Dazwischen alles, das auch möglich ist, wenn man 70 Räume und Hallen zur Verfügung hat: Hochzeiten, Partys, Modeproduktionen, Videodrehs“, so Schmerberg. „Wir sind zu groß, um uns nur einer Sache zu widmen. Es soll ein kreativer Acker für alles Kreative sein.“
Wie ist er eigentlich auf den seltsamen Namen MaHalla gekommen? In manchen Artikeln steht, der Begriff würde in vielen Ländern Nordafrikas und in Zentralasien selbstverwaltete Stadtviertel bezeichnen. Laut dem Übersetzungsprogramm von Google bedeutet es auf Usbekisch so viel wie „Nachbarschaft“. Oder nimmt man gar Anklang an Walhalla, den nordischen Göttertempel?
Schmerberg lacht. Diese Assoziation habe er noch gar nicht gehabt. „Ich bin auf den Begriff gekommen, weil das viele Licht der Halle für mich sehr weiblich war und von hier viel entspringen soll, MaHalla soll eine Mutterhalle sein“, sagt er. Dass es so viele Assoziationen gebe, sei jedoch am besten daran. So sei schließlich der Gedanke des Projekts selbst: „Ein Ort, den jeder für sich selbst definieren und gestalten kann.“