Die gestärkte AfD beansprucht ein halbes Dutzend Ausschussvorsitze im Bundestag – und die Union erscheint willig, sie ihr zu geben. Die Sozialdemokraten reagieren empört.
Noch ist der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nicht zum Kanzler gewählt. Noch ist nicht einmal der zugehörige Vertrag von der SPD-Basis gebilligt.
Doch längst wird über die Auslegung der Vereinbarungen gestritten, etwa beim Mindestlohn oder bei Asylzurückweisungen – und bei einer Verfahrensfrage mit besonders akutem Kampfpotenzial: Wie hält es die künftige Koalition im Bundestag mit der AfD?
Oder anders formuliert: Wie stabil ist die sogenannte Brandmauer? Und: Wo setzt man sie überhaupt?
AfD ist zweitgrößte Fraktion im Bundestag
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Johann Wadephul, immerhin Fraktionsvize von Merz, plädierte diese Woche offen dafür, der AfD die ihr zustehenden Ausschussvorsitzenden zu geben. Andernfalls könne die Partei nur ihren „Märtyrerstatus aufrechterhalten“, sagte er dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Ähnlich hatte sich zuvor Wadephuls Fraktionsvorstandskollege Jens Spahn geäußert.
Die SPD sieht das dezidiert anders. Sie war es, die ab 2021 in der Ampel-Koalition gemeinsam mit Grünen und FDP der AfD im Bundestag die ihr zustehenden drei Ausschusschefposten verwehrte. Und sie ist es, die nun darauf drängt, es auch in der neuen Wahlperiode so zu halten. Spahns Aussagen seien „empörend und gefährlich“, sagte jetzt Parteichefin Saskia Esken.
Für viele Sozialdemokraten hallt zudem der Großeklat von Ende Januar nach, als Union, FDP und AfD gemeinsam im Bundestag einen Antrag für eine schärfere Migrationspolitik beschlossen. „Ich hoffe, dass die Unionsfraktion nicht wie Spahn die AfD zur normalen Partei erklärt, sondern wieder eine klare Haltung entwickelt“, sagte die SPD-Abgeordnete Elisabeth Kaiser, die dem Vorstand der Parlamentarischen Linken angehört, dem stern.
Somit ist die Besetzung der Ausschüsse Teil eines grundsätzlichen strategischen Konflikts. Denn Wadephul und Spahn sind nicht nur Mitglieder im Fraktionsvorstand. Sie repräsentieren eine wachsende Strömung in der CDU, die für einen pragmatischeren Umgang mit der AfD plädiert und in den ostdeutschen Landesverbänden bereits eine Mehrheit besitzt.
„Die AfD ist eine rechtsextreme Partei, sie will die Demokratie abschaffen“, sagte zeitgleich etwa der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer im ZDF. Das schließe eine Zusammenarbeit oder gar eine Koalition aus. Aber: Die demokratischen Rechte der Partei müssten davon unberührt bleiben.
Dabei verweisen die Befürworter einer weicheren Linie darauf, dass die AfD bereits in der Legislatur von 2017 bis 2021 drei Ausschussvorsitzende gestellt habe, ebenso wie sie jetzt in mehreren Landtagen ganz selbstverständlich diese Funktionen bekleide. Darüber hinaus sei es undemokratisch, einer Parlamentspartei de facto ihre Rechte zu verweigern.
Diese Art der Ausgrenzung sei „schlicht grenzwertig“, sagte ein CDU-Bundestagsabgeordneter dem stern. Sie gefährde am Ende das Ansehen der anderen Parteien.
AfD besetzt fast ein Viertel des Parlaments
Die Gegner, die allerdings in der Unionsfraktion weniger werden, warnen vor einer Normalisierung der AfD. Sie verweisen darauf, dass sich die Partei seit der ersten Wahlperiode weiter radikalisiert habe und mittlerweile vom Verfassungsschutz als „rechtsextremer Verdachtsfall“ eingestuft werde.
Außerdem, heißt es, habe 2019 die Abwahl des damaligen Rechtsausschuss-Vorsitzenden Stephan Brandner erstmals gezeigt, dass den Personalvorschlägen der AfD nicht zu trauen sei. Dasselbe gelte für die jüngste Abwahl des Chefs des Verfassungsausschusses, Alexander Wiesner, im Sächsischen Landtag.
Zumal: Falls der Verfassungsschutz die gesamte AfD demnächst – so wie zuvor die Landesverbände von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – als „erwiesen rechtsextrem“ einstufe, könnte erneut die Debatte über ein Parteiverbot beginnen. Eine Wahl von AfD-Ausschusschefs würde dies von Anfang an konterkarieren.
Alle Parteien können sich Ausschussvorsitze aussuchen
Formal sind die Abläufe klar geregelt. Wenn Merz zum Kanzler gewählt ist und sein Kabinett ernannt hat, werden die Ausschüsse verteilt. Als größter Oppositionsfraktion steht der AfD der Haushaltsausschuss zu. Danach darf die Union als größte Regierungsfraktion zugreifen, danach die Grünen-Fraktion, danach die SPD und schließlich die Linke. Und dann beginnt es wieder von vorn.
Bei der nachfolgenden Konstituierung der Ausschüsse war es einst üblich, dass die Personalvorschläge der jeweiligen Fraktionen umstandslos bestätigt wurden. Doch seit dem Einzug der AfD mussten in den ihr zustehenden Ausschüssen die Chefposten gewählt werden – und blieben im Zweifel unbesetzt.
Und so dürfte es dieses Mal zu bis zu sechs Abstimmungsdramen kommen. Dabei gilt theoretisch für Union und SPD die allgemeine, im Koalitionsvertrag festgelegte Regel: „Im Deutschen Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab.“ Doch praktisch sind die Wahlen geheim.
AfD freut sich über die Debatte
Am Ende könnte das Ergebnis auch davon abhängen, wen die AfD aufstellt. Jenseits des Haushaltsausschusses, für dessen Vorsitz die AfD-Abgeordnete Ulrike Schielke-Ziesing antreten will, gibt es noch keine verlässlichen Informationen. Spekuliert wird über Gottfried Curio für den Innenausschuss, Kay Gottschalk für den Finanzausschuss oder René Springe für den Sozialausschuss.
In der AfD-Fraktion gibt man sich vorsichtig. „Wer jetzt über Ausschussvorsitze spricht, betreibt reine Spekulation“, sagte Springer dem stern. „Wir entscheiden, sobald das Vergabeverfahren abgeschlossen ist – nicht vorher.“ Auch der Parlamentarische Geschäftsführer Bernd Baumann erklärte gegenüber dem stern: „Über die Strategie bestimmen noch Fraktionsvorstand und Fraktionsversammlung.“
Grundsätzlich allerdings hält Springer bei den geheimen Abstimmungen alles für möglich. Er erwarte durchaus mit Spannung, ob die Union dieses Mal „genug Rückgrat“ besitze, um einen AfD-Ausschussvorsitzenden mitzuwählen, sagte er, „oder ob sie wieder vor der SPD einknickt und feige hinter der Brandmauer in Deckung geht“.
Aus Sicht der AfD kann sie selbst wieder nur gewinnen. Entweder kommen in den geheimen Abstimmungen einer oder gar mehrere ihrer Kandidaten durch, was die Partei aufwerten und gleichzeitig die neue Koalition spalten würde. Oder die Opfererzählung werde gestärkt, mit der Folge, dass die Union weiter an die AfD verliere.
Der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer Baumann fasst die Situation für seine Partei so zusammen: „Einigen CDUlern dämmert jetzt, wie sehr die Brandmauer den Linksgrünen nutzt, ihrer eigenen Partei aber schadet.“