Musik und Gesellschaft: Wie Haftbefehl zum Sprachrohr der migrantischen Jugend wurde

In einer vieldiskutierten Netflix-Doku stellt Rapper Haftbefehl schonungslos seine Selbstzerstörung zur Schau. Das sorgt bei vielen für Entsetzen. Doch in der migrantischen Bubble bleibt er ein Held.

Seit Tagen beherrscht die Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ über den Offenbacher Rapper Haftbefehl die Schlagzeilen. Das mit brutaler Ehrlichkeit dargestellte Rapstar-Leben zwischen Drogensucht und Blitzlichtgewitter hat nicht nur viele Fans fassungslos zurückgelassen, sondern auch eine Debatte über Drogen und selbstzerstörerisches Verhalten ausgelöst.

Doch die Netflix-Doku zeigt mehr als nur die Drogenabhängigkeit eines berühmten Mannes. Sie zeigt auch, wie ein im sozialen Elend aufgewachsener Junge, der mit 13 Jahren den Suizid des eigenen Vaters verkraften musste, zur Identifikationsfigur einer Generation migrantischer Arbeiterkinder wurde. 

Dass die Dokumentation vor allem in der migrantischen Jugend so gut ankommt, dürfte auch daran liegen, dass Haftbefehls Lebensweg jene Brüche sichtbar macht, die viele von ihnen aus der eigenen Familie kennen: Armut, Vernachlässigung, Gewalt – und den Versuch, trotzdem einen Platz in der deutschen Gesellschaft zu finden.

Geradezu ikonisch wirkt vor diesem Hintergrund die Szene, in der Haftbefehl, sichtlich gezeichnet von gesundheitlichen Beschwerden und Selbstzweifeln, eine Ballade von Reinhard Mey nachsingt. Es ist ein seltenes Bild der Nähe zwischen zwei verschiedenen Welten.

Der „einzige deutsche Rapstar“?

Aykut Anhan, wie Haftbefehl bürgerlich heißt, ist bei Weitem nicht der einzige erfolgreiche Gangster-Rapper in Deutschland. Schon Jahre vor ihm lockten Bushido und Sido Tausende junge Menschen mit harten und oft gewaltverherrlichenden Rapsongs in die Konzerthallen. 

Inzwischen sind die Charts voll mit Rappern aus allen Teilen des Landes. Was also ist das Besondere an dem 39-jährigen Offenbacher mit türkisch-kurdischen Wurzeln? Und warum behauptet eine Szenegröße wie Kool Savas in der Doku, dass Haftbefehl der „einzige deutsche Rapstar“ sei?

„Er hat den Stil geprägt“, sagte der Soziologe Martin Seeliger von der Universität Bremen, der auch zum Thema Gangster-Rap publiziert hat, der Deutschen Presse-Agentur. „Er hat verschiedene Sprachen gemischt, in einer Art, die vor allem Feuilletonisten sehr angesprochen hat. Und er hat über das Frankfurter Bahnhofsviertel gerappt, das schon weit vor Haftbefehl bekannt war für Rot- und Blaulicht.“

Roh und ungeschliffen

Als Haftbefehl Anfang der 2010er Jahre auf der Bildfläche erschien, rappte er über das Leben auf der Straße, über Drogengeschäfte und Kriminalität. Mit einer eigentümlichen Mischung aus Arabisch, Kurdisch, Türkisch und Deutsch transportierte er die Sprache der sozialen Brennpunkte eins zu eins in seine Musik. Er rappte so, wie die jungen Menschen in den Hochhausvierteln sprachen: roh, ungeschliffen und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten.

„Haftbefehl ist mit seiner Geschichte und seinen Erfahrungen nicht allein“, sagte Seeliger mit Blick auf die vielen jungen Menschen in den Brennpunktvierteln, die sich mit dem Rapper identifizieren. „Er will das transparent und sichtbar machen, was er erlebt hat und wie er gelitten hat.“ Was ihn von anderen Gangster-Rappern unterscheide, sei, dass er sehr offensiv mit seiner Geschichte umgehe. 

Vorbild für Jugendliche?

„Man kann jetzt nicht aus der Doku schließen, dass junge Migranten alle so leben“, sagte Seeliger mit Blick auf Haftbefehls Leben als krimineller und drogensüchtiger Außenseiter. Aber ähnlich wie bei Haftbefehl machten viele junge Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland eine Erfahrung der Randständigkeit, aus der heraus sie sich alternative Idole wie Haftbefehl suchten. 

Dieses Gefühl entstehe vor allem dann, wenn sie in der Schule ausgegrenzt würden oder wenn sie auf der Arbeit oder im Übergang in den Arbeitsmarkt eine Stigmatisierung erlebten. „Aus dieser Grundhaltung schaffen sich junge Migranten mit Vorbildern wie Haftbefehl einen Rahmen, mit dem sie stolz auf das sein können, was sie sind.“

Inzwischen ist Haftbefehl längst ein Superstar, dessen Strahlkraft weit über die migrantische Community hinausreicht. Mit dem 2013 veröffentlichten Song „Chabos wissen, wer der Babo ist“ löste er einen Hype auf deutschen Schulhöfen aus, der bis dahin seinesgleichen suchte. 

Plötzlich benutzten Gymnasiasten aus gutbürgerlichen Familien Vokabeln, die man sonst nur in den Hochhausvierteln der Frankfurter Nordweststadt oder im Offenbacher Mainpark hörte. Das Wort „Babo“ wurde zum Jugendwort des Jahres – und eine ganze Generation von abgehängten Migrantenkindern bekam mit Haftbefehl eine authentische Stimme.

Frühere Texte auch mal antisemitisch

Weit über ein Jahrzehnt später wollen Offenbacher Schüler das Leben und die Musik des Rappers nun in hessischen Lehrplänen sehen. „Haftbefehl ist kein Randphänomen – er ist Teil der kulturellen DNA unserer Stadt und unserer Generation“, sagte Luca Albert Dobrita, Stadtschulsprecher von Offenbach bei Frankfurt/Main. Seine Sprache, sein Werdegang und seine Themen erzählten von der Realität, die viele junge Menschen täglich in der Stadt leben. 

Das CDU-geführte Bildungsministerium in Hessen lehnte das ab und argumentierte mit den Texten Haftbefehls und seinem kontroversen Auftreten in der Öffentlichkeit. 

Tatsächlich sind Haftbefehls Texte nicht selten gewaltverherrlichend, sexistisch und ja, auch mal antisemitisch. Etwa wenn er davon rappt, wie er „Kokain an die Juden von der Börse“ verticke, wie in einem Song aus dem Jahr 2010. 

Wie der Rapper heute zu diesen Texten steht, ist nicht bekannt. Auf eine dpa-Anfrage hieß es, dass Haftbefehl nicht für Interviews zur Verfügung stehe. Zum Antisemitismus-Vorwurf sagte er vor einigen Jahren: „Ich beurteile keinen Menschen aufgrund seiner Religion, Ethnie oder Hautfarbe. Bei uns existiert so was nicht und jeder, der sich die Mühe macht, sich mit mir und meinem Umfeld zu beschäftigen, wird dies erkennen und verstehen.“

Trotz der abschreckenden Darstellung von Drogenmissbrauch in der Netflix-Doku findet Martin Seeliger gerade in der gezeigten Aufstiegsgeschichte Haftbefehls einen Aspekt, der auf junge Migranten aus schwierigen Verhältnissen motivierend wirken könne. „Wenn man als junger Mensch nicht sicher ist, was man sich zutrauen kann, kann so eine Geschichte natürlich ermutigend und ermächtigend sein.“

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