Gastbeitrag: Die Brandmauer nützt nur der AfD

Bisherige Versuche, die Partei kleinzuhalten, sind gescheitert. Der Politologe Philip Manow plädiert deshalb für eine neue Strategie.

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie aber ist auf ihre eigene Weise unglücklich“. In diesem ersten Satz aus Tolstois „Anna Karenina“ bräuchte man nur „Familie“ mit „politisches System“ zu ersetzen, und schon hätte man eine recht treffende Gegenwartsbeschreibung. 

Fast alle Länder in Europa sind mit der gleichen Entwicklung konfrontiert: Die etablierten Parteien werden schwach und schwächer, neben ihnen, an den Rändern, gedeihen neue Parteien. Aber im Umgang mit diesen neuen Radikalen scheint jedes politische System auf seine eigene Weise unglücklich. 

Dabei mag es fast tröstlich erscheinen, dass Deutschland nicht allein vor diesem Dilemma steht. In Frankreich verfügen die Populisten von links und rechts über mehr als 40 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung, nahe an einer negativen Verhinderungsmehrheit. Sie wird jedes Mal erreicht, wenn wenige Enttäuschte aus der gemäßigten Mitte hinzustoßen. Die Folge: eine hektische Abfolge von Misstrauensanträgen, Rücktritten, der Nominierung neuer Ministerpräsidenten, nahezu aussichtslosen Regierungsbildungsversuchen, blutleerem Regieren – eine politische Dauerkrise.

Wer angesichts dieses Chaos irritiert über den Rhein blickt, sollte berücksichtigen, dass Deutschland von solchen Verhältnissen vielleicht nur ein Sondervermögen weit entfernt ist. In Frankreich sind angesichts einer Staatsverschuldung von 130 Prozent die fiskalischen Schmiermittel für die politische Kompromissbildung mittlerweile erschöpft, in Deutschland wird – noch – im Schatten „gekaufter Zeit“, wie es der Soziologe Wolfgang Streeck beschreibt, regiert. Kaufpreis: ein erheblich aufgestocktes Bundeswehrbudget und 500 Milliarden für die Infrastruktur. Eine solche Operation lässt sich aber nicht oft wiederholen, falls überhaupt. 

Das Aufkommen der Populisten hat in allen europäischen Ländern die Mehrheitsbildung komplizierter werden lassen, außer dort, wo sich das Problem deswegen nicht mehr stellt, weil die Populisten mittlerweile bereits in der Regierung sitzen: in Italien, den Niederlanden, Ungarn, Tschechien. Österreich hat zwei solcher Episoden durchlebt. Die rechtspopulistische FPÖ wurde im Jahr 2000 und 2017 an der Regierung beteiligt. 

Beim ersten Mal versuchte Rot-Grün unter Kanzler Gerhard Schröder gemeinsam mit europäischen Verbündeten sogar eine EU-weite Brandmauer hochzuziehen. Die wurde alsbald stillschweigend umgangen und erwies sich auch ansonsten als wirkungslos. Die zweite Regierung mit FPÖ-Beteiligung endete mit dem Ibiza-Skandal. Heute ist eine im Vergleich zu Jörg Haiders Zeiten eher noch schärfer auftretende FPÖ in den Umfragen mit großem Abstand wieder stärkste Partei, 14 Prozent vor den österreichischen Christdemokraten, der ÖVP. 

Die AfD wächst in Umfragen 

Wegregieren, warten, bis der Spuk vorbei ist, einbinden, ausschließen oder sogar verbieten, wie es SPD, Grüne und Linke mit der AfD gern machen würden? Ihre Themen aufgreifen oder das gerade nicht, weil Wähler ja immer das Original der Kopie vorziehen? Es scheint, dass schon fast alles versucht wurde. Und nichts funktioniert hätte. Bei aller Varianz der Maßnahmen scheint die einzige Konstante: Die AfD wächst in Umfragen und bei Wahlen und kann dadurch auch noch vom Nimbus des quasi „unaufhaltsamen Aufstiegs“ zehren, der sich aus dieser Entwicklung ergibt. 

Niemand, so der Eindruck, kennt für den Umgang mit den Rechtspopulisten die (Ent-)Zauberformel. Wirklich niemand? Noch scheint nicht klar, was sich ändern muss. Immer klarer aber wird, dass die deutsche Politik an einem anderen Umgang mit der AfD (und für die Union: auch mit der Linken) nicht vorbeikommen wird. 

Ansonsten würde der gesamte politische Verhängniszusammenhang, aus dem die Rechtspopulisten ihren Honig saugen, weiter fortgeschrieben: 1. die Probleme der Mehrheitsfindung unter den schrumpfenden etablierten Parteien, die nur dürftig als Verhinderungskoalition zusammengehalten werden; 2. die programmatischen Selbstverleugnungen, zu denen sie sich dadurch gezwungen sehen und die sie beim Wähler noch unattraktiver machen. Und schließlich 3. der paradiesische Stand der völligen Verantwortungslosigkeit, der es der AfD erlaubt, vor dem tiefen Grau der Verhältnisse immer heller zu strahlen und unbeschädigt von allen Zwängen zum Kompromiss sich als die eine konsequente, prinzipientreue, unkorrumpierbare politische Macht darzustellen. Der nüchterne Blick auf die Verhältnisse zeigt: Die Brandmauer nützt vor allem der AfD. 

Nur verstärkt ausgerechnet die Brandmauer selbst permanent die Anreize, unbedingt an ihr festhalten zu müssen. Im Schatten der Mauer können bei der AfD die Extreme ungestört blühen. Aber je extremer ihr Auftreten, desto bedrohlicher ist ihr Anwachsen; desto fester schließen sich die Reihen der selbst ernannten „demokratischen Parteien der Mitte“, auf Kosten des eigenen politischen Profils. 

Genau das vertieft die wahrgenommene Kluft zwischen einem angeblichen Kartell der „unterschiedslosen Altparteien“ auf der einen Seite, die sich nur an die Macht klammern, und der echten Alternative auf der anderen Seite. Dauerhaft fortgesetzt, würden die Ränder weiter gewinnen und die Mitte verlieren, so lange, bis die „Brandmauer oder nicht?“-Frage sich gar nicht mehr stellte mit einer AfD als klar stärkster Kraft. In den neuen Bundesländern scheint die Partei genau das in den Blick zu nehmen.

Es gibt einen dritten Weg

Dass man angesichts der fortgesetzten Radikalisierung der AfD gar nicht anders könne, als sie konsequent von der Macht fernzuhalten, dass es viel zu gefährlich sei, die Probe aufs Exempel zu machen, ist eine Position, die nach Lage der Dinge sehr viele gute Gründe für sich anführen kann. Darum beherrscht sie auch den Diskurs. Sie leuchtet aber nur ein unter einer Prämisse: Dass man nur die Wahl hätte zwischen einer AfD an der Macht oder einer fern der Macht, dass es etwas Drittes also gar nicht gäbe. So ist es aber nicht. 

Dieses Dritte kommt in der Debatte kaum vor, weil sich in siebzig Jahren bundesdeutscher Demokratie eine Praxis des Koalierens etabliert hat, in der Regierungsmehrheiten sich für eine gesamte Legislaturperiode absolute Treue schwören – politische Monogamie. Als fast unvorstellbar, geradezu skandalös erscheint es dagegen, flexible Mehrheiten im Parlament zu nutzen, möglicherweise sogar eine Minderheitsregierung, die sich mal links, mal rechts die fehlenden Stimmen beschafft – politische Polyamorie. 

Was in Deutschland weitgehend als undenkbar gilt, ist anderenorts seit Langem gängige Praxis und führt dort anscheinend zu deutlich geringerem politischen Unglück. In den skandinavischen Ländern sind Minderheitsregierungen politischer Alltag. Fast alle dänischen Nachkriegsregierungen und vier Fünftel der schwedischen Regierungen besaßen keine eigene Mehrheit im Parlament. Gegenwärtig lassen sich in Schweden die Bürgerlichen von den Rechtspopulisten der Schwedendemokraten tolerieren. Die Nachricht vom bevorstehenden Ende der schwedischen Demokratie ist bislang ausgeblieben. 

Im Gegenteil: Die Schwedendemokraten wollen – wie alle Rechtspopulisten und ihre Wähler – die Migration effektiv einschränken. Sie haben die Wahl, sich wie die AfD auf einen irren Remigrations-Selbstradikalisierungstrip zu begeben, politisch nichts durchzusetzen und damit auch ihre Wähler zu enttäuschen, oder einem gemäßigt-restriktiven migrationspolitischen Kurs zuzustimmen, wie er ihnen von den Rechtsbürgerlichen angeboten wurde. Sie haben sich, wenig überraschend, für die zweite Option entschieden und sich auf diese Weise deutlich entradikalisiert. 

Entsprechend schwer fällt es, diesen Kurs als ersten Schritt in Richtung Faschismus zu werten. „Kompromisse ohne Koalitionskorsett“, so nennt ein geschätzter Kollege, Christian Stecker, diese Regierungspraxis. Seine These, dass flexible Mehrheiten die Demokratie stärken, fasst er gerade in einem bald erscheinenden Buch zusammen. Wem nun der Schrecken eines harten Rechtsschwenks der deutschen Politik in die Glieder fährt, der sei auf die Moderierungswirkung flexibler Mehrheiten hingewiesen und darauf, dass sie kein Privileg eines politischen Spektrums sind. Das Prinzip ließe sich auch für linke Projekte nutzen. 

Nur ein Gedankenspiel: Was wäre gewesen, hätte Gerhard Schröder 2005, nach knapper Niederlage gegen Angela Merkel, seine rot-grüne Koalition als Minderheitsregierung fortgesetzt, um mit den Stimmen der Linken von Bürgerversicherung bis Vermögenssteuer sozialdemokratische Kernanliegen umzusetzen? Man stelle sich eine solche Gesellschaft mit mehr sozialer Gerechtigkeit und weniger Überforderung durch ungeregelte Zuwanderung vor. Wir würden in einer anderen und vermutlich glücklicheren Republik leben.

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