Über den Wolken: Schämen Sie sich denn gar nicht (mehr)?

Vor Corona war Fliegen bei vielen verpönt. Nach der Pandemie jettet die Welt mehr als vorher. Hallo Flugscham! Was ist daraus geworden und was hat sie gebracht? Eine Spurensuche.

Möglichst schnell, möglichst weit weg, diesen Komfort bietet nur das Flugzeug. Da ist es kein Wunder, dass jährlich Millionen Deutsche die Reisefreiheit am liebsten über den Wolken genießen. Dort oben ist sie eben grenzenlos – oder?

Fliegen macht zwar nur drei bis fünf Prozent der weltweiten Emissionen aus, gehört aber zu den klimaschädlichsten Reisearten überhaupt. Markttaugliche Alternativen zu fossilen Kraftstoffen gibt es für die Luftfahrtbranche bis heute nicht. Trotzdem fliegt die Welt, als gäbe es kein Morgen – beziehungsweise keinen Klimawandel.

2024 hoben in der gesamten EU mehr Fluggäste abals in jedem Jahr vor der Coronapandemie. Auch global zeigen die Flugstatistiken nur in eine Richtung: nach oben. In keinem Sektor sind Passagierzahlen und damit auch die Treibhausgasemissionen innerhalb weniger Jahrzehnte so deutlich gestiegen wie im Flugverkehr. Und das, obwohl der Planet gerade auf eine Erwärmung von mehr als 1,5 Grad zusteuert.

Das Paradoxe: Fast jeder weiß das, aber zu wenige kümmert’s. Fernweh schlägt Flugscham – und der CO2-Fußabdruck, der bleibt. Wie konnte es so weit kommen?

Als die Flugscham erwachte

Vor einigen Jahren wäre vielen ein Wochenendtrip in New York oder auf Malle vielleicht noch peinlich gewesen. Kein Wunder: Weltweit richteten Teenager ihre Zeigefinger auf alle, die es wagten, mit ihrem Luxus und Konsum die Zukunft zu gefährden. Damals war das Thema Fliegen mindestens so emotional wie emissionsreich. In einer Umfrage aus den USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien erklärte 2019 sogar jeder Fünfte, wegen des Klimas aufs Fliegen zu verzichten.

Wolfgang Strasdas, Professor für nachhaltigen Tourismus am gleichnamigen Zentrum (Zenat), erinnert sich noch gut an den Schock, der die Branche durchfuhr, als dann auch noch die Coronapandemie ausbrach. Viele erwarteten, dass Pandemie und Klimabewegung die Reisegewohnheiten komplett umkrempeln würden. „Da gab es dieses Gefühl, man müsse jetzt alles besser und nachhaltig machen“, erzählt Strasdas dem stern.

Rückblickend war die Panik wohl unbegründet: Die Menschen fliegen mehr als je zuvor. Der Geschäftsführer von Ryanair, Michael O’Leary, jubelte auf einer Presseveranstaltung in diesem Jahr „die grüne Agenda“ sei „tot“. „Die Zeiten, in denen uns die Franzosen, Niederländer und Deutschen seit 20 Jahren predigen, dass wir alle Fahrrad fahren, mit dem Zug oder über die Autobahn reisen sollten, sind vorbei“, skandierte er.

Bis ins letzte Jahr habe es sogar noch einen Nachholeffekt bei Fernreisen gegeben, sagt Tourismusforscher Strasdas. Im laufenden Jahr hat sich der Trend zwar nicht weiter verstärkt, in einigen Bereichen hat der Flugverkehr sogar nachgelassen, etwa bei deutschen Inlandsflügen. Das liege aber mehr an der Bahn als an der Scham, meint er.

Fliegen kann sich heute (fast) jeder leisten – Klimaschutz nicht

Auch hat die Reisebranche viel dafür getan, um dieses Schamgefühl in ein grünes Gewissen zu verwandeln: Wer ein Flugticket bucht, kann zusätzlich etwas Kleingeld dalassen, um klimafreundliche Aktionen zu unterstützen, zum Beispiel Aufforstungsprojekte im Globalen Süden. Nur glänzte die CO2-Kompensationsbranche in den vergangenen Jahren vor allem mit Negativschlagzeilen. Wie viel die Projekte wirklich bringen, wird immer wieder angezweifelt – auch wenn der Ansatz grundsätzlich eine gute Sache sei, wie Tourismusforscher Strasdas betont.

80 Prozent der Deutschen können sich heute Reisen leisten. „In wohlhabenden Ländern wie hier ist Reisen ein bis in die untere Mittelschicht verbreitetes Konsumphänomen“, sagt Strasdas. Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt allerdings: Gerade die Wähler der Grünen fliegen am häufigsten – ausgerechnet eine Klientel mit hohem Einkommen und Bildungsgrad. Also Menschen, die eigentlich aus besserem Wissen verzichten müssten, und auch das nötige Geld hätten, um bei der Flugbuchung ein Baumprojekt mitzufinanzieren. „Die Zahl derer, die das wirklich tun, bewegt sich aber im einstelligen Prozentbereich“, weiß Strasdas noch aus früheren Studien und kritisiert gleichzeitig die Reisebranche. Die wisse sehr wohl, wie wenig diese Angebote tatsächlich bringen. „Das Image spielt im Tourismus eine große Rolle. Die Branche ist da sehr opportunistisch.“

Auch das Monitoring-Projekt Climate Action Tracker, das die Bemühungen von Staaten und Branchen bei der Dekarbonisierung bewertet, stuft die Anstrengungen der Fluggesellschaften als „kritisch unzureichend“ ein. Der Klimafonds Tourismus ist ein weiteres Beispiel dafür. Er wurde aufgesetzt, um in der Branche Gelder für grüne Investitionen zu sammeln und die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Mittlerweile wurde er eingestellt, weil kaum Geld zusammenkam.

Die Grenzen der Flugscham

Auf absehbare Zeit werde sich das Reiseverhalten wohl nicht ändern, schätzen Experten. Bleiben noch politische Maßnahmen, um die Fliegeritis zu behandeln. Umweltethiker Konrad Ott von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel lobt hier vor allem die Umweltbewegung, die die jahrzehntealte Forderung nach einem Ende der Subventionen für defizitäre Flughäfen und eine angemessene Kerosinbepreisung gesellschaftstauglich gemacht habe. Für viele Regionalflughäfen würden solche Maßnahmen möglicherweise das Aus bedeuten. Die Kosten für Flugreisen würden drastisch steigen, aber der Verkehr über den Wolken würde weniger. „Flugreisen sind Luxus und keine Normalität“, rechtfertigt Ott die Forderungen.

Politiker reagieren allerdings zögerlich und lieber zugunsten der Reisebranche. Ausgerechnet in Schweden, Heimatland von Greta Thunberg und Flugscham, kippte die Regierung 2024 die sechs Jahre zuvor eingeführten Flugsteuern und investierte zusätzlich 97 Millionen US-Dollar in den Sektor. Selbst nach der Coronapandemie sind Flugreisen in Europa günstiger als Bahnfahrten. Teile des European Green Deal werden gerade rückabgewickelt oder aufgeweicht. Und Länder wie Deutschland werden für grünes Engagement abgestraft. Die Fluggesellschaft Ryanair etwa will bestimmte Flughäfen in der Bundesrepublik wegen der hohen Luftverkehrssteuer nicht mehr anfliegen.

So schön Flugscham in den Ohren der Klimaaktivisten auch klang, am Ende war es wohl nur ein flüchtiges Gefühl. Die Freiheit über den Wolken dagegen … sie lässt sich nicht so einfach eingrenzen.

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