Beim Wehrpflicht-Streit zwischen Union und SPD platzte Boris Pistorius der Kragen. Mit einem Machtwort räumte er einen Kompromiss ab. Dahinter steckt mehr als Eitelkeit.
Es war Dienstag, der späte Nachmittag, als Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) der Kragen platzte. Dabei hatte er am Vormittag in einem Podcast noch wohltemperiert geklungen. Von der Journalistin Karina Mößbauer nach der Idee des Losverfahrens für eine Rekrutenauswahl befragt, anwortete der Verteidigungsminister: „Ich bin da ehrlich gesagt inhaltlich ein bisschen skeptisch. Ich weiß nicht, ob das ein glückliches Verfahren ist, aber darüber können sich die Parlamentarier gern verständigen, ich werde mich dem nicht in den Weg stellen.“
Nur wenige Stunden später stellte er sich in den Weg. Die SPD war im Bundestag zu ihrer Fraktionssitzung zusammengekommen. Dort sollte auch über den Entwurf für das neue Wehrdienstgesetz diskutiert werden, der am Donnerstag in erster Lesung vom Bundestag beraten werden soll.
Pistorius warb wochenlang für den Entwurf
Für den vom Kabinett bereits gebilligten Entwurf hatte Pistorius schon wochenlang getrommelt, war durch die Landesgruppen seiner Partei getourt, hatte erklärt, um Zustimmung geworben. Doch dann stellte sich die Union quer. Ihr fehlte ein Automatismus, der dafür sorgt, dass junge Männer zum Wehrdienst verpflichtet werden können, wenn sich nicht genügend Freiwillige finden, um die Nato-Vorgaben zu erfüllen.
Der jetzige Entwurf sieht vor, dass die Wehrpflicht wieder aktiviert werden kann, wenn der Bundestag zustimmt. Eine verpflichtende Musterung für alle 18-jährigen Männer ist aber erst ab 2027 vorgesehen. Das ging vielen in der Union nicht weit genug.
Weil sich die Dinge verhakten, trafen sich in der vergangenen Woche deshalb Fachpolitiker von Union und SPD, darunter der Außenpolitiker Norbert Röttgen (CDU), die frühere Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium, Siemtje Möller (SPD), und der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Falko Droßmann. Sie verständigten sich auf einen Kompromiss: das Losverfahren. Sollten aus der Gruppe der jungen Männer, die einen Musterungsbogen erhielten, nicht genügend zur Musterung bereit sein, wollte man die Zahl per Auslosung ermitteln.
Am Sonntag war die Info durchgestochen worden, das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ berichtete als Erstes. In der SPD fühlten sich viele von der Nachricht überrumpelt. Bislang hatte man dort nur vom Gesetzentwurf des Kabinetts gehört.
„Das war eine Blutgrätsche“
Die Stimmung war also bereits aufgeheizt, als die Fraktion am Dienstag zusammenkam. Dennoch sprach man zunächst über ein ganz anderes Thema, den Besuch des jüdischen Publizisten Michel Friedman am 7. Oktober und dessen Warnung vor der Zerstörung der Demokratie. Erst danach stellte Siemtje Möller den Wehrdienst-Kompromiss vor. Und erntete sofort scharfen Widerspruch. Die Rechtspolitikerin Carmen Wegge machte deutlich, dass sie eine Auswahl per Losverfahren für juristisch äußert fragwürdig und nicht im Sinne der Wehrgerechtigkeit halte. Dafür habe es im Raum viel Zustimmung gegeben, so berichten es Teilnehmer.
War das für Pistorius das Ventil? Für das Gefühl, tagelang übergangen worden zu sein? Und sich von Fachpolitikern sagen lassen zu müssen, was man als zuständiger Minister doch viel besser weiß?
Pistorius schimpft über „faulen Kompromiss“
Jedenfalls meldete sich der Verteidigungsminister zu Wort – und drehte damit endgültig die Stimmung im Saal. Er spreche nicht als Genosse, sondern als IBUK, sagte Pistorius – als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt. Also als der, der die Verantwortung für die Bundeswehr im Ernstfall trage. Und als solcher halte er nichts von diesem „faulen Kompromiss“, könne ihn auch nicht mittragen. Es müsse der Bundeswehr obliegen zu entscheiden, wer gemustert und am Ende gezogen werde, eine Bestenauslese. Und nicht ein Losverfahren.
„Robust-rustikal“ sei Pistorius aufgetreten, sagt ein Teilnehmer. „Das war eine Blutgrätsche“, sagt ein anderer. Siemtje Möller habe sichtlich angefasst gewirkt. Das Verhältnis der beiden war schon zuvor nicht das beste. Pistorius hatte dafür gesorgt, dass Möller als Parlamentarische Staatssekretärin ausgetauscht wurde.
Für Befremden sorgte in der Fraktion auch, dass bereits vor Beginn des parlamentarischen Verfahrens ein Kompromiss ausgehandelt wurde. „Das ist absolut unüblich“, sagt einer.
Am Ende der Fraktionssitzung versuchte Fraktionschef Matthias Miersch zu retten, was noch zu retten war. Er ließ darüber abstimmen, ob denn überhaupt am Donnerstag der Bundestag über das Wehrdienstgesetz debattieren soll. Erst mal nur in seiner normalen Fassung, ohne die später ausgehandelte Kompromissformel zum Losverfahren. Eine deutliche Mehrheit war dafür.
Über den Auftritt von Pistorius gehen die Meinungen in der Fraktion am Tag danach auseinander. Die einen finden es richtig, dass er ein fragwürdiges Verfahren vorerst abgeräumt hat. Zumal in den sozialen Netzwerken schon heftig über die angebliche „Kriegslotterie“ oder die „Hungerspiele“ (in Anspielung an die Film-Trilogie „Die Tribute von Panem“) hergezogen wurde. Auch dass Pistorius klarmachte, dass er sich bei solchen Planungen nicht übergehen lasse, ist für viele nachvollziehbar. Möller und die anderen hätten sich von der Union zu sehr unter Druck setzen lassen, sagt einer.
Andere verübeln dem Minister, dass er nicht schon vor der Fraktionssitzung klare Worte fand und so dazu beitrug, dass die Angelegenheit außer Kontrolle geriet. Weil die Pressekonferenz zum Kompromissmodell erst abgesagt wurde, als die Journalisten bereits eingetroffen waren, blieb der Eindruck einer chaotischen Koalition zurück. Auch in der Union sind viele sauer. „Pistorius hat die Bude angezündet“, sagt einer.
Verhandler geben sich nicht geschlagen
Ganz geschlagen geben wollen sich die Verhandler des Kompromissmodells noch nicht. „Das Losverfahren ist nicht tot“, sagt Falko Droßmann dem stern. Man werde dies jetzt ganz normal als eine Idee in den parlamentarischen Prozess einbringen. „Ich hätte mir den Ablauf anders gewünscht“, sagt Droßmann, der im Eklat aber auch etwas Positives sieht: „Es macht deutlich, um was es hier eigentlich geht. Um die Verteidigung unseres Landes.“