Kolumne Ganz Naher Osten: Ein Jungpionier und die Gnade der späten Geburt

Vor genau 35 Jahren endete die DDR und ich wurde zum Bürger der Bundesrepublik. Seitdem ist mir mein Hochmut längst vergangen – und dem Westen vergeht er langsam auch.

Wenn mir, und das kommt leider immer öfter vor, wieder mal ganz flau wird wegen dieser verrückten Welt, oder ganz allgemein wegen der Umstände, die mein Beruf mit sich bringt – dann vergegenwärtige ich mir die Tatsache, was für ein Privileg es doch ist, Journalist zu sein, zumal in einem Land, in dem sich journalistisch frei arbeiten lässt. 

Dafür, ja wirklich, bin ich dankbar. Ich kann fremde Menschen ausfragen, die interessant oder doch zumindest wichtig sind. Ich kann Prozesse und Parteitage aus nächster Nähe beobachten, oder doch, wie bei der AfD, hinter einem Absperrgitter. Und ich kann mit einem Präsidenten mitfliegen und danach kritisch (und ja, auch etwas mokant) über ihn schreiben, ohne dass ich danach meinen Job verliere oder Schlimmeres. 

In dem Staat, in dem ich bis zu meiner Volljährigkeit aufwuchs, wäre dies nicht einmal als Gedanke möglich gewesen. Deshalb hätte ich auch in der DDR, so sah es meine Zulassung am Ende der 11. Klasse vor, Informatik in Dresden studiert – so wie es jetzt, das Leben übt sich zuweilen in Ironie, einer unserer Söhne tut.

Aber ich wurde Journalist. Das heißt, zuerst wollte ich Historiker werden, oder gar Philosoph, weshalb ich mich, nachdem ich ein einige Reisen durchs nichtsozialistische Währungsgebiet absolviert hatte, in diversen Studienfächern einschrieb. Ich war schließlich jung und das Leben voller neuer Möglichkeiten.

Was ich erst ein paar Jahre später lernte, war, dass es sich bei den Journalisten in Ostdeutschland um zwei hermetisch geschlossene Kohorten handelte. In der ersten, größeren Kohorte hatten die allermeisten der SED angehört. Diese Tätigkeit nannte sich in der DDR ganz offiziell „Agitation und Propaganda“, was ich auch deshalb nachvollziehen konnte, weil ich als Wandzeitungsredakteur meiner Jungpionier-Brigade (aka Schulklasse) gedient hatte.

Das Gemeine daran war, dass viele alten SED-Redakteure nach 1989 ihren Job behalten durften, im Gegensatz zu den Kalikumpels, Trabant-Maschinisten oder LPG-Bauern. Denn die Westverlage balgten sich darum, die Bezirkszeitungen zu kaufen. Ihnen war nicht an den maroden Druckereien oder gar dem realsozialistischen Mitarbeiterkollektiv gelegen, sondern an den Abermillionen an Abonnenten.

Was von der DDR übrig blieb

Und so erschienen die alten Zentralorgane der alten Staatspartei unter zumeist neuen Namen und mit diametral gewendeten Inhalten einfach weiter. Die Redakteure wurden der Einfachheit halber übernommen, sie schrieben ja auch jetzt andersherum. 

Nur die Chefredaktionen und andere Leitungsposten wurden ersetzt, und zwar mit Westdeutschen. Dasselbe galt für die wenigen Ost-Korrespondentenstellen der großen Zeitschriften, Zeitungen und Agenturen – und für weite Teile des neu entstehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Denn, so lautete die Logik des Eliten-Austauschs, der in fast allen Bereichen stattfand: Nur Westdeutsche galten als politisch unbelastet und besaßen naturgemäß eine viel bessere Ahnung von dem, was die neue Zeit und der freie Markt verlangten. Und so entstand die zweite, etwas kleinere, aber dafür umso besser bezahlte Journalisten-Kohorte.

Die Nebenwirkungen wurden nicht bedacht oder bewusst ignoriert. Oder sie waren gar gewollt. Neu gegründete Publikationen überlebten oft nur wenige Monate. Auch Ostdeutsche, die in der DDR oppositionell waren oder solche, die einfach den Journalismus in der Demokratie ausprobieren wollten, besaßen kaum eine Chance auf eine Stelle. Sie waren ja alle von Alteingesessenen oder Westimporten besetzt.

Die richtige, westdeutsche Biografie

Es gab selbstverständlich Ausnahmen, auch in einigen wenigen Chefredaktionen. Aber sie bestätigten die Regel. Dasselbe galt erst recht für überregionale Medien, deren Hauptredaktionen zumeist in Hamburg, München, Hannover oder Essen lagen. Dort waren alle Stellen längst besetzt von Leuten mit der richtigen Ausbildung, den richtigen Kontakten und überhaupt der richtigen, also westdeutschen Biografie. Und wenn diese Leute neue Leute einstellte, dann vor allem nach exakt diesen Kriterien.

Die Ostdeutschen, auch diese Erfahrung lässt sich auf andere Bereiche übertragen, waren insbesondere dafür vorgesehen, die Medienprodukte zu kaufen. Das taten sie am Anfang auch kurz – und danach immer weniger. Denn das, was sie dort lesen konnten, war zumeist das, was die westdeutschen Reporter von ihren gelegentlichen Expeditionen in den wilden Osten mitbrachten: Stasi-Skandale, Neonazi-Überfälle, Fördergeld-Verschwendung.

Auch hier gab es Ausnahmen. Ich erinnere mich an so einige kluge Reportagen von Journalisten, die sich um Zugewandtheit und Fairness bemühten. Vor allem die Ost-Korrespondenten bemühten sich, auch mal die Perspektive der Eingeborenen einzunehmen. Doch sie stießen damit in ihren Redaktionen nur auf eingeschränktes Verständnis. Am Ende berichteten dann auch sie zuweilen das Übliche.

Ein differenziertes Bild konnte so nicht entstehen. Das gilt auch teilweise 35 Jahre nach dem Beitritt des kleineren, ärmeren und historisch unterlegenem Teil Deutschlands zum größeren, reicheren und siegreichen Teil. Zwar wird die Unwucht heute stärker reflektiert, auch von den großen, immer noch ausschließlich westdeutschen Medienhäusern. Auch diese Kolumne darf hierfür als kleines Beispiel gelten. 

Es bleibt kompliziert

Dennoch kann ich an meinem ostdeutschen Selbst beobachten, wie schwer es fällt, aus den seit 1990 gewachsenen Mustern auszubrechen. Wenn ich in Medien, die insbesondere Westdeutsche konsumieren, über den politischen Extremismus im Osten berichte, dann versuche ich stets, die Wirklichkeit zu beschreiben, bediene aber gleichzeitig ungewollt Klischees, wobei ich lieber nicht zu lange darüber nachdenke, wie viel davon Opportunismus ist. Und wenn ich, wie gerade eben, die real existierenden Folgen systematischer Benachteiligung schilderte, wirke ich womöglich wie ein verkappter Ostidentitärer, der laut von Kolonialisierung redet und leise Wähler von Björn Höcke exkulpiert.

Es bleibt leider kompliziert. So wie die Ex-SED-Agitatoren der Ex-SED-Bezirkszeitung, denen ich mit jugendlichem Hochmut begegnete und die mir zu guten Kollegen wurden, kann ich meinen Prägungen nur schwer entrinnen. Ich hatte, so wie es Helmut Kohl damals formulierte, vor allem die Gnade der späten Geburt. 

Dies wäre jetzt ein angemessen koketter Schlusssatz, zumal ich, wie mein Chef völlig zu Recht anmerken wird, wieder viel zu länglich geschrieben habe. Aber da ist noch dieses neue Buch, das mir Hoffnung darauf gibt, dass sich Muster irgendwann auswachsen. Geschrieben hat es ein Leipziger „Zeit“- Kollege, den ich sehr schätze, als Mensch und als Journalist. August Modersohn, geboren 1994 in Berlin, beschreibt in dem westöstlichen Reportage-Band viele der Stereotypen, die sich in dreieinhalb Jahrzehnten Einheit eingeschliffen haben, um sie gleichzeitig zu brechen. 

August Modersohn: In einem neuen Land. Eine deutsche Reportage. Propyläen-Verlag, 24 Euro

Ihm gelingt die Vermessung eines vereint geteilten Landes, in dem der Westen in Zeitlupe die ostdeutschen Brüche und Entwicklungen nachvollzieht, einschließlich der Erosion alter Gewissheiten und dem Aufschwung eines neuen, extremen Populismus. Seinen Protagonisten, ob nun Mona in Duisburg oder Gundi in Welzow, begegnet August mit spürbarer Empathie – und öffnet sie damit. Und ausgerechnet in Freiberg im Breisgau hört er einen Satz, der auch schon in dieser Kolumne variiert wurde: „Der Osten ist nur Vorreiter.“

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