Fotografie: Die Nordsee von oben

Der Fotokünstler Peter Hamel hält eine Landschaft fest, die jeden Tag neu erschaffen wird: die deutsche Nordseeküste. Ihm gelingen eindrucksvolle Bilder von Watt und Wandel.

Feiner Dunst verschleiert die stille See, nur vereinzelt sind drunten kleine Gischtspitzen auszumachen. Entspannt wirkt sie, die Nordsee, keine Spur von Blanker Hans vor Föhr. Da schiebt sich ein Schatten in den Blick, auch noch eingerahmt von einem kleinen Regenbogen. Er tritt ein, jener Augenblick, den Henri Cartier-Bresson, ein Gigant der Reportagefotografie, einmal „le moment décisif“ genannt hat: der Sekundenbruchteil, in dem der Finger eines Meisterfotografen den Auslöser durchdrückt.

Peter Hamel ist ein solcher Meister, er kennt die Großen seines Fachs und deren Stil und Werke. Hamel fotografiert seit seinem 14. Lebensjahr, es liegt fünfeinhalb Jahrzehnte zurück. Man sieht ihm das nicht an, erst recht nicht, wenn er über seine Bilder redet. 

In Hamels Portfolio nehmen Motive wie jene Komposition aus Dunst, Schatten und Meer eine Sonderstellung ein. Die Flugfotografie an der Nordseeküste hält den Hamburger seit drei Jahrzehnten in ihrem Bann: die Farben des Himmels, die Farben der See, die Farben des Sandes und die Farben des Lebens.

Die Nordsee von Den Helder bis Esbjerg

Selbst jene, die sich nicht auskennen mit der Fliegerei, deuten den Schatten auf dem Bild mit den schwebenden Tröpfchen auf Anhieb richtig: Es ist die Silhouette des berühmtesten Leichtflugzeugs der Welt, einer Cessna. Der Zweisitzer 152 und die viersitzige 172, Peter Hamels hohe Warten über dem Meer, fliegen schon seit Jahrzehnten. Die Cessna 172 ist der meistgebaute Flugzeugtyp der Luftfahrtgeschichte. Als sogenannte Schulterdecker tragen beide ihre Flügel über Kopf, zur Freude von Fotografen. Richtet Hamel sein Objektiv auf eine Robbenbank, eine Salzwiese oder Prielgeäder, verstellt ihm nichts den Blick. Die in seiner Kunst unsichtbaren Tragflächen sind groß, sie können dank mächtiger Landeklappen viel Auftrieb liefern und erlauben es, recht langsam und auch bei Seitenneigung stabil zu fliegen. Manch ein Hamel-Porträt von Küste und Watt verdankt sich diesen Vorzügen. Und obendrein der Gunst, dass man in den klassischen Cessnas die vorderen Seitenfenster aufklappen kann wie in französischen Kleinwagen von früher.

So sind sie entstanden, Hamels Bilder einer einzigartigen Landschaft, des Wattenmeers der Nordseeküste. Vom niederländischen Den Helder bis zum dänischen Esbjerg erstreckt es sich, rund 500 Kilometer Naturraum, dessen hervorstechendes Merkmal unentwegter Wandel ist. Das Wattland, das seinen Namen trägt, weil man es bei Niedrigwasser durchwaten kann, oszilliert mit den Gezeiten, fällt trocken, wird überspült und neu geformt. Wechselnde Winde rippeln den Sand, Abflussrinnen erscheinen und verschwinden. Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte bleibt hier nichts so, wie es ist – nur, wenn der Mensch es sicher eingedeicht, dem Meere abgetrotzt und permanent gepflegt hat. Auf alten Karten sieht man bewohntes Land, wo heute Wurm und Krebs regieren, und jeder weiß: Der Menschenschlag, der Generation um Generation hier gediehen ist, ist besonders. Auf einer Hallig inmitten einer Sandbank, dort muss man wirklich wohnen wollen.

Hier leben rund 10.000 Tier- und Pflanzenarten

Steht man vor Hamels Bildern und blickt wie ein Vogel auf dieses Land am Meer hinab, drängt sich ein Gedanke auf: All die Menschen, die hier seit vielen Jahrhunderten gelebt, gebaut, gefischt, diese Natur geliebt und ihren Sturmgewalten getrotzt haben, die hatten nie den Überblick! Weiter als von Deich und Leuchtturm konnten sie nicht schauen, höher als dort hinauf nicht steigen.

Hamel erwähnt einen weiteren Meister der Fotografie im Fluge, den Schweizer Georg Gerster: „Er sprach viel über den rechten Abstand zu den Dingen. Er betonte den Überblick, der Übersicht gibt, aus der Einsicht erwächst.“ Und die sei in der Gegenwart doch so vonnöten.

Denn obwohl dem Wattenmeer durch Nationalpark, seinen 2009 gewonnenen Status als Unesco-Welterbe sowie zusätzliche Schutzprogramme der Bundesländer mehrere Bewahrungsversprechen gegeben sind, ist die Nordsee doch ein hoch vernutzter Wirtschaftsraum: Transportmedium und Windkraft-Eldorado, wiederholt von küstennaher Baggerschlick-Verklappung zugunsten des Hamburger Hafens bedroht und von Überdüngung aus den Flüssen, die exzessiv Algen erblühen lässt. Strandgänger erkennen sie an den Schaumansammlungen, zu denen die Algen zerfallen.

Und doch: Die Schönheit lebt, und in ihr mehr als 10 000 Tier- und Pflanzenarten. Zehn bis zwölf Millionen Zugvögel pro Jahr schauen auf sie nieder, wenn sie zur Rast hier landen. Peter Hamel wird sie weiter aus dieser Perspektive einfangen – noch fehlen etwa die niederländischen Küstenabschnitte in seinem Werk.

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