Erstklässler lernen erst Druckschrift, dann eine Schreibschrift. Doch Studien legen nahe, dass das eher hinderlich als hilfreich ist. In Bayern könnte ein Modellprojekt weitreichende Folgen haben.
Jahrzehntelang haben Grundschüler in Bayern erst eine Druckschrift, dann eine verbundene Schreibschrift gelernt. Das verwirrt viele Kinder – und führt häufig zu unleserlichen, langsamen Handschriften. Deshalb gibt es nun ein Modellprojekt, bei dem die Kinder direkt auf Basis der Druckschrift ihre individuelle, (teil-)verbundene Handschrift entwickeln sollen. Am Ende könnte das Aus für die verpflichtende Schreibschrift stehen.
Wie lernen Kinder in Bayern bislang schreiben?
Bisher lernen Erstklässler in Bayern zunächst die Druckschrift – die sie schon im Kindergartenalter täglich in Büchern oder auf Ladenschildern sehen. Ende der ersten oder Anfang der zweiten Klasse wird dann zusätzlich eine Schreibschrift eingeführt – meist die Vereinfachte Ausgangsschrift (VA), eher selten die Schulausgangsschrift (SAS). Bei ihnen werden die einzelnen Buchstaben mit Haken und Schleifen durchgängig miteinander verbunden. Gegen Ende der Grundschulzeit sollen die Mädchen und Jungen dann aus Druck- und Schreibschrift ihre individuelle Handschrift entwickelt haben.
Was ist an diesem zweiphasigen Schrifterwerb problematisch?
Auch Sicht der Kinder: Zum einen verwirrt es viele, dass sie innerhalb kurzer Zeit jeden Buchstaben in vier Varianten lernen müssen – als Groß- und als Kleinbuchstaben, in Druck- und in Schreibschrift. Hinzu kommen diverse Verbindungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Buchstabenkombinationen. Diese Vielfalt erschwert, dass der Schreibprozess automatisiert wird, die Kinder müssen sich stark auf ein „schönes“ Schriftbild konzentrieren – statt auf den Inhalt, die Rechtschreibung oder die Grammatik.
Aus Sicht der Lehrkräfte: „Die Vereinfachte Ausgangsschrift ist für manche Kinder schwierig und führt oft zu Handschriften, die schwer lesbar sind und es an Formklarheit und Flüssigkeit vermissen lassen“, bilanziert die Leiterin des Grundschulreferats im Kultusministerium, Maria Wilhelm. „Und wir erleben häufig, dass die Kinder in der Jahrgangsstufe drei wieder in Druckschrift zurückfallen, obwohl sie zuvor eine Schreibschrift erlernt haben. Das scheint für sie die geläufigere und besser schreibbare Schrift zu sein.“
Aus Sicht der Forschung: Schreibschriften verlangsamen das Schreibtempo. Kinder, die eine vermeintlich flüssige Schreibschrift zu Papier bringen, schreiben nämlich gar nicht am schnellsten. „Bei einem Satz mit fünf Wörtern haben die Kinder, die ganz verbunden schreiben, im Schnitt 22 Sekunden gebraucht“, fasst Eva Odersky von der Uni Eichstätt ihre wegweisende Studie zusammen. „Diejenigen, die Druckschrift schreiben, benötigten zwei bis drei Sekunden weniger, und die mit einer teilverbundenen Schrift sogar vier Sekunden weniger.“ Das klinge erstmal wenig, aber: „Das macht im Schulalltag auf eine ganze Seite gesehen einen großen Unterschied aus.“
Welche Konsequenzen zieht das Kultusministerium daraus?
Das Kultusministerium hat im aktuellen Schuljahr mit dem Modellversuch „FlowBy“ begonnen, in dem die Kinder an 43 Grundschulen angeleitet werden, direkt aus der Druckschrift eine flüssige, teilverbundene individuelle Handschrift zu entwickeln – ohne den „Umweg“ über eine verbundene Schreibschrift, dafür mit vielen „Schreibwerkstätten“, in denen individuell passende Buchstabenverbindungen ausprobiert werden. Jeweils in der zweiten, dritten und vierten Klasse wird dann die Handschrift der Kinder beurteilt.
Dabei wird nicht nur das Schreibtempo gemessen, sondern per Aufnahme auch festgehalten, was genau der Stift in der Hand der Kinder macht. Denn Odersky konnte auch zeigen: Kinder, die die Buchstaben auf dem Papier nicht miteinander verbinden, gehen stattdessen in der Luft meist den direkten Weg zum nächsten Ansatzpunkt. Wohingegen die Stifte der Schreibschrift schreibenden Kinder – auf dem Papier nicht sichtbar – oft wirre Kurven und Kringel in der Luft machen, bis die Kinder überlegt haben, wie sie weiterschreiben müssen.
Wie könnte es weitergehen?
Je nach den Ergebnissen des Projekts, das wissenschaftlich evaluiert wird, könnten bald viel mehr Kinder im Freistaat direkt aus der Druckschrift ihre individuelle Handschrift entwickeln. Die Grundsatzentscheidung, dies alternativ zur Schreibschrift zuzulassen, könnte schon im Schuljahr 2026/27 fallen.
Wie handhaben es denn andere (Bundes-)Länder?
Bildung ist in Deutschland Ländersache, deshalb ist das Schreibenlernen teils sehr unterschiedlich geregelt. In mehreren Bundesländern ist zum Beispiel auch die auf Druckbuchstaben basierende Grundschrift als alleinige Ausgangsschrift erlaubt – in Hessen wiederum wurde sie erst vor wenigen Jahren wieder verboten. Andere Länder wie Baden-Württemberg stellen es den Schulen frei, auf die Schreibschrift zu verzichten. Und die Schweiz hat der „Schnürlischrift“ inzwischen komplett den Rücken gekehrt.
Über den richtigen Weg lässt sich also trefflich streiten, zudem sich auch die Fachleute nicht einig sind. Neben Grundschrift-Fans, die ähnlich wie im FlowBy-Projekt einzig eine Druckschrift als Ausgangsschrift befürworten, plädierten andere Deutsch-Didaktiker 2019 in der „Siegener Erklärung“ dafür, ausschließlich die Schulausgangsschrift zu lehren – und stattdessen die Druckschrift wegzulassen.
Trotz aller Dispute hat sich die Kultusministerkonferenz 2024 darauf geeinigt, dass die geforderte Verbundenheit „nicht zwingend als verbundene Schreibspur auf dem Papier sichtbar werden“ muss. Ein entscheidender Satz für die Verfechter des einphasigen Schrifterwerbs.
Was sagen die Lehrkräfte zum einphasigen Schreibenlernen?
Auch hier gibt es zwei Lager: Viele Lehrkräfte wollen ihren Schülerinnen und Schülern unnötigen Kummer ersparen, zumal wenn sie ohnehin mit motorischen, sprachlichen oder Lernschwierigkeiten zu kämpfen haben. Angelika Speck-Hamdan, emeritierte Grundschuldidaktikerin der Ludwig-Maximilians-Universität München, schätzt deshalb, dass es nach einer entsprechenden Entscheidung des Ministeriums höchstens ein Jahrzehnt dauern wird, bis sich der einphasige Schrifterwerb in Bayern durchgesetzt hat.
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) setzt hingegen durchaus auf die Schreibschrift, damit die Kinder eine zügige und sichere Handschrift entwickeln können. „Eine absolute Norm macht aber keinen Sinn“, betont BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann dennoch. Stattdessen sei es wichtig, dass die Lehrkräfte individuell für das eine Kind diesen, für das andere Kind jenen Weg einschlagen könnten.
FlowBy-Projekt