Jubiläum: 250 Jahre Spätlese – ein Missgeschick veränderte den Weinbau

Ein verspäteter Bote, schimmelige Trauben und ein besonderer Tropfen: Aus Pannen kann Großes entstehen. Doch in diesem Jahr wird die Ernte per Handy freigegeben.

Große Errungenschaften sind manchmal dem Zusammenspiel von Zufall und Pilzbefall zu verdanken. Penicillin ist das bekannteste Beispiel dafür. Für viele Weinfreunde bestimmt fast genauso epochal: die Erfindung der Riesling-Spätlese. 250 Jahre ist es her, dass ein verspäteter Bote und ein paar schimmelige Trauben der Welt einen Wein bescherten, der von Kennern sehr geschätzt wird. In diesen Tagen startet in Deutschland die Hauptweinlese.

Was ist vor 250 Jahren passiert? Das Weingut Schloss Johannisberg im Rheingau gehörte damals den Fuldaer Fürstbischöfen. Sie hatten verfügt, dass dort nur Rieslingtrauben angebaut werden, aus denen dann der teure Weißwein gemacht wurde, der viel Geld in die Fuldaer Kassen spülte. 

Zwischen Fulda und dem Rheingau lag damals ein mehrtägiger Ritt, wie der Fuldaer Stadtführer Sebastian Kirchner berichtet. Ein Bote zu Pferd sei jahraus, jahrein zur Erntezeit zwischen Fulda und den Weinbergen unterwegs gewesen und habe dem Fuldaer Fürstbischof die Trauben vorgelegt. „Der probierte die Trauben und sagte entweder: „Jawohl, die sind reif, ihr könnt ernten“ oder er entschied: „Wartet noch mal zwei Wochen““, erzählt Kirchner.

„Und dann gab es dieses schicksalhaftes Ereignis, das jetzt genau 250 Jahre her ist“, fährt er fort. Die neugierig zuhörenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die an diesem Tag in Fulda bei der Führung „Der Spätlesereiter“ dabei sind, nippen derweil an ihren Weingläsern. Sie probieren den Tropfen, den Kirchner kurz zuvor ausgeschenkt hat. In einem rollenden Weinfass, das zu einer Art Minibar ausgebaut wurde, hat der Stadtführer verschiedene Weine zur Verkostung mitgebracht. Geschichtsunterricht zum Schmecken, sozusagen.

Zu viel Wein getrunken? Oder ein Überfall?

„Der Reiter kam verspätet mit der Ernteerlaubnis im Rheingau an. Da waren die Trauben schon verschimmelt“, berichtet Kirchner. „Warum er zu spät kam, das wissen wir nicht.“ Historisch sei das nicht ganz geklärt. „Vielleicht hat er auf dem Weg eine Frau getroffen oder zu viel Wein getrunken oder ist überfallen worden.“ Die Trauben seien jedenfalls schon angefault gewesen und die Winzer hätten sich verzweifelt überlegt, was nun zu tun sei. Der Ausfall einer Ernte für ein ganzes Jahr wäre eine finanzielle Katastrophe gewesen. 

So entschloss sich der Kellermeister, die verschimmelten Trauben doch zu keltern – und siehe da: Daraus wurde ein ganz besonderer Wein. Und ein Geschäftsmodell für die kommenden Jahrhunderte. „Die Spätlesetrauben haben besonders viel Sonne abbekommen und sind deshalb ein wenig zuckerhaltiger und entsprechend süßer“, erklärt der Stadtführer. 

Die Stadt Fulda hat dem Spätlesereiter, wie der Bote im Nachhinein genannt wurde, ein Denkmal gesetzt. Nicht zuletzt auch, um Fuldas Beitrag für diese nachhaltige Veränderung im deutschen Weinbau zu verewigen. Auch auf Schloss Johannisberg steht ein entsprechendes Denkmal. 

Wie der Reiter tatsächlich hieß, weiß man nicht mehr. Der Zeichner Michael Apitz sowie die Autoren Patrick und Eberhard Kunkel haben ihn vor Jahren zu einer literarischen Kultfigur entwickelt und ihm einen Namen gegeben: „Karl, der Spätlesereiter.“

Spätlese hat sich weiterentwickelt

Der Weingutsleiter von Schloss Johannisberg, Stefan Doktor, erklärt: „Die Spätlese hat seit ihrer Entdeckung im Jahr 1775 eine Wandlung durchlaufen: Heute wird sie nicht unbedingt aus edelfaulen Trauben gekeltert, sondern vielmehr aus vollreifen, gesunden Trauben, bei denen der hohe Säuregehalt ebenso wichtig ist wie der Zuckergehalt.“ Er sagt: „Der Name ist ein bisschen verrufen.“ 

Moderne Spätlesen seien „aromatisch, frisch und von hoher Qualität“, so Doktor. Sein Weingut produziere stets die „höchstmögliche Menge“ an Spätlesen – dies entspreche einem Anteil im Weinangebot von etwa 15 Prozent. „Es ist wirtschaftlich ein wichtiges Produkt“, bekräftigt Doktor. Eine Spätlese vom Schloss Johannisberg koste zurzeit 46 Euro die Flasche. 

Deutschlandweit wurden 2024 rund 2,4 Prozent aller Qualitäts- und Prädikatsweine als Spätlese ausgebaut, wie der Sprecher des Deutschen Weininstituts, Ernst Büscher, erläutert. „Spätlesen haben in der Regel ein überdurchschnittliches Preisniveau, weil die Erntemengen zum Teil deutlich niedriger als bei Qualitätsweinen sind.“ Für hochwertige Spätlesen sei oftmals auch mehr Handarbeit im Weinberg nötig.

Handy ersetzt beim Jubiläum den Reiter

Zum Jubiläum stellt sich der Weingutschef einer sportlichen Herausforderung. Doktor will ab Donnerstag (4. September) mit seinem Rennrad quer durch Hessen ins 180 Kilometer entfernte Fulda fahren – und sich damit auf die Spuren des Spätlesereiters des Jahres 1775 begeben. 

Doktor ist privat passionierter Sportler und erfolgreicher Rennrodler. Er will die Strecke nach Fulda in drei Tagen bewältigen – und gerade noch rechtzeitig zum Fuldaer Weinfest am Samstag (6. September) Oberbürgermeister Heiko Wingenfeld (CDU) die Trauben zum Probieren überreichen. Der Rathauschef soll dann symbolisch die Lese auf Schloss Johannisberg freigeben. Das wird voraussichtlich ganz schnell gehen – mit einem Handyanruf.

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