Früher klopfte man sich nach schweren Einsätzen auf die Schulter und trank ein Bier. Heute reden Feuerwehrleute offener über ihre Ängste. Einblicke in die Aufarbeitung der Katastrophe von Riedlingen.
Kreisbrandmeisterin Charlotte Ziller hat schon viel gesehen: Verkehrsunfälle. Notlagen. Brände. Tote. Seit sie 16 Jahre alt ist engagiert sie sich bei der Feuerwehr. Aber der Abend des 27. Juli hat auch für sie eine ganz neue Qualität. „Das war so surreal“, erzählt die 40-Jährige heute. Die Zugwaggons hätten einfach durcheinander in der Böschung gelegen – wie in einem Kinderspiel. „Der gehört da so nicht hin“, habe sie damals gedacht. Als sie in das Gleisbett blickt, das verbeulte Wrack sieht, wird ihr klar, dass das kein absurdes Szenario eines Planspiels ist, sondern bittere Realität. „Nichts war so, wie es sein sollte.“
Genau vier Wochen ist es her, dass der Regionalzug der Linie RE 55 bei Riedlingen aus den Gleisen springt. Dutzende Fahrgäste werden bei dem Unglück verletzt, drei Menschen kommen ums Leben. Hunderte Einsatzkräfte eilen zum Unglücksort – blutjunge Ehrenamtliche, aber auch gestandene Feuerwehrmänner mit jahrzehntelanger Erfahrung. Für alle ist es eine Lage, wie sie sie noch nie erlebt haben. Die Katastrophe treibe die Feuerwehrleute noch immer um, erzählt Ziller. „Es ist nicht mehr Alltag – aber es ist immer noch da.“
Feuerwehrmann: „Es dürfen auch Tränen fließen“
„So was habe ich tatsächlich noch nie erlebt“, berichtet Feuerwehrmann Gerhard Blank, der seit 40 Jahren im Dienst ist. Die Bilder haben sich auch bei ihm für immer eingebrannt – nicht nur die vom Zugwrack und verunglückten Opfern, sondern auch von erschöpften, abgekämpften Helfern, die mit Fassung ringen.
Blank war am Abend des Unglücks vor Ort verantwortlich für die sogenannte psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte – sein Job ist es, bei Unfällen und Katastrophen den Helfern zu helfen. Denn auch an Feuerwehrleuten, Rettern und Polizisten geht ein solches Ereignis nicht spurlos vorbei. „Es hat bei diesem Einsatz, behaupte ich, jeder sein Päckchen abbekommen“, sagt Blank. Die Aufgabe der Seelsorger vor Ort sei in erster Linie, da zu sein – zuzuhören, Gespräche zu ermöglichen, auch einmal Schweigen auszuhalten.
Früher habe man sich nach einem schweren Einsatz bei der Feuerwehr auf die Schultern geklopft, noch ein Bier getrunken und sei nach Hause gegangen, erzählt Blank. Das sei Vergangenheit. Man gehe heute professioneller, sensibler mit solchen Katastrophen um. „Die Kameraden sprechen wirklich offen über die Sache – und es dürfen auch Tränen fließen.“
Katastrophe kann Urinstinkte wecken
Als Notfallpsychologe ordnet Robert Hohl vom DRK-Kreisverband Biberach ein, was in solchen Situationen im Kopf passiert: „In einer völlig unvorbereiteten Situation kommen die Urinstinkte durch: Ich flüchte, ich starre oder ich fange an zu kämpfen. Man kann nicht mehr klar denken.“ Das könne zu kompletter Handlungsunfähigkeit führen. Einsatzkräfte, die sich etwa wegen einer längeren Anfahrt mental etwas auf das Geschehen vorbereiten konnten, hätten sich leichter getan mit den schrecklichen Eindrücken.
Auch im Nachgang seien Gespräche noch wichtig, sagt Hohl. Gerade wenn die Bilder nicht mehr aus dem Kopf gingen, wenn Schlafstörungen aufträten oder emotionale Taubheit. Vier Gruppengespräche habe man nach dem Zugunglück durchgeführt, rund 120 Einsatzkräfte hätten teilgenommen, so Hohl. Kameradinnen und Kameraden kämen dabei zusammen, jeder könne erzählen, was er erlebt habe. „Da geht es darum, den Einsatz zum Abschluss zu bringen.“ Die Gemeinschaft sei dabei wichtig.
Psychologe: Früh Hilfe holen
In den meisten Fällen gelinge es der Psyche, diese Eindrücke innerhalb der ersten Wochen nach dem Unglück zu verarbeiten, so der Psychologe. Andernfalls müsse man sich Hilfe holen, so Hohl. „Je früher, desto besser.Wenn ich früh anfange, mir auch professionelle Hilfe und Unterstützung zu holen, dann hält das weniger lang an.“
Für Charlotte Ziller ist klar: Die psychosoziale Betreuung ist unwahrscheinlich wichtig. Denn: „Nach dem Einsatz fängt es erst an, im Kopf zu rotieren.“ Die Hilfe sei auch wichtig, weil die meisten Einsatzkräfte im Land ehrenamtlich unterwegs seien. „Über 90 Prozent unserer Feuerwehrleute machen das freiwillig. Die sehen Bilder, die andere höchstens im Kino sehen – und da halten sich viele schon die Augen zu.“