Spanien: Ist Benidorm immer noch eine All-Inclusive-Hölle?

Für viele ist Benidorm der Inbegriff der Bettenburgen, eine All-inclusive-Hölle – aber ist dieses Urteil noch zeitgemäß? Der Fotograf Didier Bizet wollte verstehen, wie man hier urlauben kann.

Die Wissenschaft unterscheidet zwei grundlegende Gruppen der touristischen Motivation: Romantiker und Pragmatiker. Romantiker wollen Ursprünglichkeit und Authentizität. Pragmatiker dagegen begreifen den Urlaub bloß als eine Option selbstbestimmter Daseinsgestaltung. Romantiker sind dabei als Touristen durchaus auch tourismuskritisch, was natürlich herrlich ambivalent zu sein scheint. Für die Pragmatiker indes ist offen inszenierte Wirklichkeit kein Problem. Womit wir bei Benidorm wären und mittendrin stehen in diesen grell ausgeleuchteten Canyons aus Bettenburgen und Trödelhöllen, Pubs und Vergnügungssalons, Schnellrestaurants und Scootervermietungen. Mittendrin in den Bildern von Didier Bizet. Mehr offen inszenierte Wirklichkeit geht nicht.

Alle, die ameisengleich durch das bunte Panorama der Costa Blanca wimmeln, sind freiwillig angereist, in Vollerwartung dessen, was ihnen da nun bitte geboten werden möge an Amüsement, Animation, Performance. Er habe, sagt der französische Fotograf, verstehen wollen, was Menschen an solche Orte locke – was sie mit den Orten machen und was die Orte mit ihnen. Gute Fragen, gerade jetzt.

Schließlich produziert der Massentourismus längst Widersprüche, die in Wohlgefallen nicht mehr aufzulösen sind. Venedig etwa verlangt eine Eintrittsgebühr, auf Mallorca und einigen Kanaren demonstrieren sie gegen den Ausverkauf ihrer Inseln, in Barcelona werden entlang der Rambla die Rollkofferarmeen mit Wasserpistolen und noch Ärgerem gegängelt. Overtourism lautet der Kampfbegriff, und das Verhältnis zwischen Reisenden und Bereisten ist darüber grundsätzlich in die Krise geraten. An diesem Punkt wird die Debatte kompliziert, weil politisch riskant. Denn diese Massen für ihre Massenhaftigkeit zu ächten, hieße auch, ihren Anspruch auf Partizipation, auf Gleichheit, auf ein Stück vom Kuchen infrage zu stellen. Will man Einzelnen erlauben, was man allen nicht zugestehen mag? Sofort folgt da das Argument, vor noch nicht allzu langer Zeit hätten die unteren Schichten gar nicht reisen können, weshalb es gerechtigkeitsökonomisch zu begrüßen sei, dass sich heute ein jeder auch mit nur wenig Geld ein bisschen Sonne, Sangría und Selbstvergessenheit leisten könne. Massentourismus ist immer auch Klassenkampf.

Ein Kampf, der sich in Benidorm selbst überbietet. 2024 war einmal mehr ein Rekordjahr, fast drei Millionen Touristen kamen. Die Unkenrufe der Benidormer Hoteliers in der Pandemie, ihr Geschäftsmodell sei langfristig beschädigt, sind verhallt. Die meisten der nicht spanischen Urlauber stellen dabei die Briten. Dieser in die Höhe betonierte Badeort ist ihnen das, was den Deutschen Mallorca ist: zweite Heimat, seltsamer Fluchtpunkt, am Ende auch die Gewissheit, unter ihresgleichen zu sein. So sehr haben sie Benidorm vereinnahmt, dass daraus eine TV-Comedyserie gleichen Titels geworden ist, die rigorosen Voyeurismus mit viel Lust am Klischee betreibt. Wie passt das zusammen mit der Umfrage, derzufolge Benidorm das Urlaubsziel darstellt, bei dem sich Briten am dollsten schämten, dort gewesen zu sein?

Es mag an der ästhetischen Fundamentalerfahrung liegen, an den Szenen, die ein bisschen zu billig, zu schnell und zu grell wirken. Es könnte auch am Urlaubsdarwinismus liegen, der mit der Reservierung der Strandliege beginnt und am All-you-can-eat-Büfett endet; daran, dass hier zwölf Stunden am Tag Happy Hour ist und um so manchen Pool Engländer an ihren Strohhalmen saugen wie bizarre Vögel an der Wasserstelle. In Benidorm erholt sich, vulgärsoziologisch gesprochen, ein Publikum, das man mal „working class“ genannt hat – und heute als trashig diskreditiert. Die Hotels spucken die Leute aus, als wären sie ihnen auf den Magen geschlagen, hinein in einen überraschungsfreien Aufenthalt. Man weiß vorher, was man erleben wird, und so soll es sein. Dazu diese Skyline mit mehr als 370 Türmen mit mehr als zwölf Stockwerken, was Benidorm zur zweitdichtesten Hochhausregion der Welt macht, auf den Quadratmeter gerechnet, direkt nach New York. Manhattan des Mittelmeers nennen sie es folglich.

Benidorm wirkt wie ein klarer Fall, die Verurteilung abgeschlossen: böse, all das!

Dabei gibt es auch für die Gegensicht Argumente. Denn anders als die anderen Plätze, an denen die Verteilungskämpfe zwischen Touristen und Einheimischen eskalieren, trägt Benidorm seinen Ruf als Urlaubsmekka mit Stolz. Proteste sind keine dokumentiert. Die Entscheidung, in den 1950er-Jahren ein Fischerdorf zum Ferienparadies nach amerikanischem Vorbild umzubauen, finden viele Einwohner immer noch richtig, auch weil sie davon profitieren. Bis heute gehören laut Schätzung des Hotelverbands Hosbec 80 Prozent der 140 Hotels Benidormer Familien oder Gruppierungen. Die Stadt ist auch nicht in die Breite gewuchert; der städtische Masterplan von einst funktioniert. Er befiehlt den Bau ins Vertikale, gern architektonisch gewagt, mit breiten Alleen und Grün dazwischen. Das mag europäisch geschulten Augen mitunter bizarr erscheinen, ist aber deshalb nicht gleich unauthentisch.

Benidorm wollte so werden, wie es ist.

Zumal der Hochhausbau Energie spart, Touristen und Infrastruktur verdichtet. Die Transportwege sind kürzer, der Wasserverbrauch ist geringer. Zuletzt hat sich die Stadt mit nachhaltigen Techniken sogar das Zertifikat „Intelligente Tourismusdestination“ in Spanien verdient und wurde von der Europäischen Kommission in einem Wettbewerb als „Green Pioneer of Smart Tourism 2025“ ausgezeichnet.

Didier Bizet hat Kunstgeschichte studiert und als Artdirector in Prag und Paris gearbeitet. Seit 2015 widmet er sich der Fotografie und zeigt gern Kuriositäten der Moderne, an denen sich unsere Gesellschaft erklärt. Seine Bilderserien erscheinen in internationalen Magazinen und wurden ausgezeichnet
© Didier Bizet

Während sich andere Städte mit dem falschen Versprechen, man könne dort leben wie die Einwohner selbst, ihre Probleme hausgemacht haben, wollte Benidorm immer schon Resort sein. Deshalb gibt es hier keine Wohnungen, die für Airbnb freigehalten werden – und demzufolge keine „locals“, die keinen Platz mehr in der eigenen Stadt finden. Das soll nicht heißen, dass Massentourismus nun als die bessere Urlaubsform absolutiert wäre. Aber die moralische Überlegenheit, die Individualreisende gern vor sich hertrugen, ist hier widerlegt. Städte wie Barcelona und Venedig wurden nicht für den Andrang von Horden gebaut, für Kreuzfahrtschiffe und Billigcharter – Benidorm schon. Hier kann der Mensch ganz und gar Tourist sein. Und die, die kommen, müssen sich auch nichts anderes beweisen.

Didier Bizet, dessen Bilder uns das belegen, versteht sich dabei als Dokumentar. Er zeigt, was ist, anders als etwa sein Kollege Martin Parr, der Benidorm vor vielen Jahren ebenfalls abgelichtet hat, als brutales Schlachtengemälde aus Müll, Exzess und rot verbrannten Körpern. Das war, wie oft bei Parr, entlarvend, aber auch gemein. Der Brite gab sich keine Mühe, seine Verachtung zu verbergen. Heute könnte man solch einem Blick Klassismus unterstellen.

Bizet indes zeigt uns Pragmatiker der Freizeitgestaltung – und findet, dass ein Ort wie Benidorm als Trutzburg gegen die Vereinzelung seine Berechtigung hat, auch wenn er selbst andere Ferien bevorzugt. „Die Leute, die hier urlauben, sind eigentlich einsam“, sagt Bizet. Aber für ein paar Tage teilen sie ihre Einsamkeit mit anderen, bis daraus, und sei es nur als Illusion, eine Gemeinschaft wird. Mag man sich darüber erheben?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert