Intelligenzforschung: So klug sind Kraken wirklich

Kraken sind klüger, als viele denken – sogar schlauer als so manches Säugetier. Die NaturforscherinSy Montgomery räumt mit Vorurteilen über die Meereswesen auf.

An einem Märztag vor elf Jahren begegnet die Psychologin und Autorin Sy Montgomery einem Alien, einem Wesen wie aus einer anderen Welt. Für dieses Treffen fliegt sie allerdings nicht ins All. Sy, damals 53 Jahre alt, steigt nur ein paar Stufen hinab, ins schummrige Untergeschoss des New England Aquarium in der US-amerikanischen Stadt Boston. Sie erinnert sich:

Begegnung mit einer Krake: Wie alles begann

„Scott, der Tierpfleger, führte mich zu einem Tank, der einem gewaltigen Gurkenglas glich. Er hatte dessen Tür noch nicht ganz geöffnet, da schoss sie herbei: Athena, ein weiblicher Pazifischer Riesenkrake. Was für ein Tier! 20 Kilogramm schlabbrige Masse, ein Papageienschnabel, acht Arme, die aus dem Kopf wuchsen. Nie war mir ein Wesen so fremd gewesen – und doch so vertraut. Denn als ich einen meiner Unterarme in den Tank tauchte, streckte sie mir plötzlich zwei ihrer acht Tentakel entgegen und umfasste meine Hand und meinen Unterarm wie ein Mensch zur Begrüßung. Kurz darauf hob sie mit Schwung ihren Kopf aus dem Wasser und blickte mich an – abgeklärt und allwissend.“

© WaterFrame

Sy erzählt Bekannten von ihrem Treffen, einige schauen sie verständnislos an. Abgeklärt? Allwissend? Ein Krake? Pure Einbildung! Tatsächlich hatte die Wissenschaft sehr lange Zeit behauptet, dass allein wir Menschen Gefühle haben und Gedanken fassen können. Erst Mitte des vergangenen Jahrhunderts gestand sie Säugetieren wie Affen oder Walen, später auch Vögeln wie Raben Grips zu. Wirbellose Tiere, etwa Quallen oder Kraken, hielt sie dagegen weiterhin für dumm. Solche „niederen Wesen“ funktionieren doch wie Maschinen und reagieren allein auf Reize, sagte man: Kommt ein Fischschwarm vorbei, reißen sie das Maul auf. Erspähen Kraken einen hungrigen Hai, schießen sie davon.

Warum Kraken so lange unterschätzt wurden

Die meisten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hatten sich aber nie besonders lange mit den Tieren beschäftigt. Das lag unter anderem daran, dass Kraken – von denen es rund 300 Arten gibt – zwar in allen Ozeanen und Meeren weltweit verbreitet sind und in lichtdurchfluteten Riffen ebenso wie in der nachtschwarzen Tiefsee vorkommen. Aber sie sind meisterhaft im Tarnen und Täuschen. Wittern sie Gefahr, verfärben und verformen sie sich binnen Sekunden, sodass sie wie Seetang oder Korallen aussehen. Andere versprühen dichte „Tinte-Wolken“, hinter denen sie verschwinden und davonsausen. Bei Tauchgängen stoßen Forschende darum oft nur zufällig auf die Tiere. Und in Aquarien sind sie schwer zu halten. Kraken gründlich zu studieren ist also gar nicht so einfach. Hinzu kommt: Vielen sind diese Wabbelwesen nicht geheuer. Sy aber macht gerade das neugierig:

„Schon als Kind mochte ich die Ungeheuer in Büchern und Filmen lieber als die Prinzessinnen. Immer war ich auf der Seite der angeblich Bösen. Ist doch klar, dass ein Drache sauer wird, wenn man ihn weckt oder ärgert! Man muss sich nur in seine Welt versetzen, um ihn zu verstehen.“

Gut getarnter Krake, Octopus vulgaris im Meeresschutzgebiet El Cabron bei Arinaga, Gran Canaria, Spanien
© mauritius images / Rolf von Riedmatten

Genau das macht Sy, die damals an einem Buch über Kraken schreibt, tatsächlich: Sie wird Stammgast im Bostoner Aquarium und nimmt Kontakt zu anderen Krakenbegeisterten auf, die Erstaunliches herausgefunden haben. Julian Finn zum Beispiel: Beim Tauchen stieß der australische Biologe auf Kraken, die Schalen heruntergefallener Kokosnüsse mit sich herumschleppten – um bei Gefahr einen Unterschlupf daraus zu bauen.

Sy spricht auch mit Jennifer Mather. Die kanadische Psychologin hatte Kraken beobachtet, die Kiesel vom Meeresgrund klaubten und damit den Eingang ihrer Höhle verbarrikadierten. Der US-amerikanische Biologe Roland Anderson ertappte die Tiere beim „Kicken“: Per Wasserstrahl, den sie aus ihren knochenlosen Körpern herauspressten, schossen sie eine Plastikdose durch ein Wasserbecken, immer hin und her. Warum nur? Verstecke verbessern, miteinander spielen: All das kostet Energie, Zeit und nützt erst einmal – nichts. Aber es trainiert die Tiere. Solch vorausschauendes Verhalten hatten Forschende bis dahin nur bei Säugern beobachtet.

Und Kraken können noch mehr: Knoten aus Fäden entwirren, Schraubverschlüsse öffnen, um an eine leckere Krabbe zu gelangen. Sie vermögen sogar, Gesichter zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. In einem weiteren US-amerikanischen Aquarium spritzte ein Krake immer eine bestimmte Wissenschaftlerin nass, sobald sie ans Becken trat; mit allen anderen hingegen hielt er „Händchen“. Sy sagt:

© Andrey Nekrasov

„Bei jeder Geschichte dachte ich: Wow! Und zugleich: Wie kommen wir nur darauf, Kraken Gedanken und Gefühle abzusprechen? Nur weil sie den Regeln der Wissenschaft widersprechen?“

Diese besagen, dass Wesen wie Schimpansen oder Raben vor allem aus zwei Gründen besonders schlau werden. Erstens: Sie wachsen in Gruppen auf, wo sie viel voneinander abgucken können. Zweitens: Sie leben und lernen relativ lange. Nichts von beidem trifft auf Kraken zu. Zwar kümmern sich Krakenmütter liebevoll um ihre Eier, die sie in Felshöhlen ablegen. Doch ist die Brut geschlüpft, sterben beide Eltern binnen weniger Wochen oder Monate. Die kaum reiskorngroßen Krakenbabys treiben dann allein auf die Weltmeere hinaus. Dort leben sie gerade zwei, drei Jahre – wenig Zeit, um zu lernen und schlau zu werden. Warum sind Kraken trotzdem so clever? Weil sie, wie Studien immer wieder zeigen, ein einzigartiges Gehirn und Nervensystem besitzen.

Wie kann ein Krake so schlau sein? Die Antwort liegt im Nervensystem

Ein Krake verfügt über rund 500 Millionen Nervenzellen. Aber anders als bei Säugern sitzt nur etwa ein Drittel davon im Zentralhirn im Kopf. Der Rest verteilt sich auf große Ansammlungen in den acht Fangarmen, in sogenannten Ganglien. Manche Forschende nennen diese sogar „Mini-Gehirne“. Kraken können dadurch offenbar in ihren Fangarmen viele Informationen gleichzeitig verarbeiten und diese weitgehend eigenständig steuern. Das Zentralhirn behält bei allem die Kontrolle – sonst würden sich die mehr oder minder eigensinnigen Arme schließlich verheddern.

Rund ein Jahr nach Sys erstem Besuch stirbt Athena, mit dreieinhalb Jahren. Aber sie begleitet die Forscherin bis heute. Athena hat ihr etwas Wichtiges beigebracht:

„Wir Menschen haben Tiere nur deshalb so lange als dumm bezeichnet, weil sie anders sind. Dabei sind wir oft einfach nicht schlau genug, um zu erkennen, wie schlau sie sind. Das hat Athena mich gelehrt.“

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