Am 19. Juli 1985 bricht im italienischen Tesero das Klärbecken eines Bergwerks. Schlamm- und Wassermassen reißen 268 Menschen in den Tod. Und die Schuld? Ist hausgemacht.
Der 19. Juli 1985 ist ein sonniger Tag in der italienischen Gemeinde Tesero. Die Region im Stavatal bei Trient ist bei Urlaubern beliebt. Niemand ahnt, dass sich weiter oben in den Bergen eine Katastrophe anbahnt.
Im Bergwerk Prestavèl im Massiv des Zanggenberges zwischen 1900 und 1500 Metern Höhe wird seit Jahrzehnten Fluorit abgebaut. Bei dem Abbau der wertvollen chemischen Substanz fallen Unmengen an sehr flüssigem Schlamm aus Sand und Wasser an. Dieser wird an zwei übereinander angeordnete etwa 50 Meter tiefe Ablagerungs- und Klärbecken geleitet, die aus großen Sanddämmen bestehen und vor etwa 20 Jahren angelegt wurden – aus gestampfter Erde, die von Zeit zu Zeit mit Planierraupen befestigt wird. Eine Holzkonstruktion, die den Erdwall abstützt, fehlt. Es ist nur einer von vielen Faktoren, die zu einer der größten Katastrophen in der Geschichte der italienischen Industrie beitragen.
Dammbruch von Tesero: 268 Menschen sterben
Es ist 12.22 Uhr an jenem verhängnisvollen Samstag, als plötzlich und ganz ohne Vorwarnung der obere Damm bricht. Er ergießt sich in den darunterliegenden Damm, der unter der ganzen Last zusammenbricht. 180.000 Kubikmeter Schlamm, Sand und Wasser rasen mit 25 Metern pro Sekunde in das Tal hinab.
Zunächst trifft die tosende Schlammlawine auf die kleine Gemeinde Stava, dann auf das rund dreieinhalb Kilometer entfernte Tesero. Mit einer brutalen Wucht reißt der Schwall alles mit, was ihm im Weg steht: Bäume, Autos, ganze Straßen, Häuser, Gehöfte und Sägewerke. Die Welle ist so hoch, dass sie über eine fast 30 Meter hohe antike Steinbrücke schwappt, die schon seit zehn Jahrhunderten in dem Ort steht. Sie wird fast vollständig zerstört. Rund dreieinhalb Minuten nach Beginn des Unglücks kommt der Schlamm im Fluss Avisio zum Stillstand. Das schöne Stavatal ist nur noch verschlammtes Ödland. Eine Fläche von 435.000 Quadratmetern ist auf einer Länge von rund 4,2 Kilometern von einer teilweise bis zu 40 Zentimeter dicken Schlammschicht bedeckt. Die 2500 Einwohner und auch etliche Touristen sind nahezu chancenlos. 268 Menschen sterben, darunter fast 60 Kinder und Jugendliche.
Es dauert nicht lange und Rettungskräfte treffen in der Gemeinde ein. Die ersten sind die Freiwilligen Feuerwehren von Tesero und des Fleimstals. Es folgen weitere Feuerwehren, Soldaten, Rettungsdienste des Weißen und Roten Kreuzes, Rettungstaucher, Polizei mit Hundestaffeln, Forstkorps und unzählige freiwillige Helfer. Am Ende sind es mindestens 18.000 Menschen, die in den folgenden Stunden und Tagen unermüdlich nach Verschütteten suchen. Auch in der Dunkelheit arbeiten sie im Licht der Scheinwerfer, räumen mit Spitzhacken und Schaufelbaggern Geröll und Schlamm-Massen beiseite.
Das Rathaus von Tesero wird zum Hauptquartier, von dem aus die Rettungsaktion koordiniert wird. Die Suchaktion dauert drei Wochen an. Die Turnhalle der Volksschule des Orts wird zur Leichenhalle. Rund 1000 freiwillige Helfer des Roten Kreuzes sind über Tage im Einsatz, um den Angehörigen bei der Identifizierung der Opfer beizustehen. Auf dem Friedhof der kleinen Gemeinde Tesero reicht der Platz für die vielen Toten nicht aus, sodass die Opfer auch in den Nachbarorten beerdigt werden.
Die Suche nach der Ursache
Es ist ein schwerer Schlag für das sonst so friedvolle Örtchen. Die Überlebenden bleiben in Schock und Trauer um ihre Freunde und Angehörigen zurück. Doch wie konnte es überhaupt zu einer der Katastrophe solchen Ausmaßes kommen?
180.000 Kubikmeter Schlamm, Sand und Wasser rasen mit 25 Metern pro Sekunde in das Tal hinab
© ansa
Fakt ist: 1985 ist eines der regenreichsten Jahre im Stavatal seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Im Vergleich zu sonst fällt fast 23 Prozent mehr Regen. Hinzu kommt, dass im Frühjahr der Schnee schmilzt, der während des Winters in den Alpen fällt – und zwar innerhalb weniger Wochen. Ein Team von Experten errechnet später, dass die Wassermenge des Tauwetters in diesem Jahr überdurchschnittlich hoch war. Ein Teil des Schmelzwassers floss die Hänge hinab und durch die Flüsse, Bäche und unterirdische Quellen in die Klärbecken, was dort zu einem weiteren Wasseranstieg führte. All diese Umstände spielten offenbar eine Rolle beim Ansteigen des Wasservolumens in dem Dammbecken.
Doch warum wurde das Wasser nicht wie üblich durch ein Drainagerohr aus dem Becken abgeleitet? Die Ermittler begeben sich in den schlammigen Überresten auf Spurensuche und durchsieben die Reste der Dämme. Als sie 360.000 Tonnen Schlamm durchsucht haben, finden sie das Rohr. Doch das ist gebrochen. Ihre Recherchen ergeben, dass ein Teilstück bei einer früheren Reparatur ersetzt wurde. Doch das Gewicht der sich absetzenden Sedimente hat im Laufe der Jahre das Rohr durchsacken lassen. Wahrscheinlich wurde das Rohr so aus der Muffe heraus gebogen, sodass das Abwasser innerhalb der Becken wieder austreten konnte und die ganze Drainage wirkungslos wurde.
Schlechter Standort und unzureichende Kontrollen
Sechs Monate vor der Katastrophe war deshalb bereits aus dem oberen Dammbecken Sand abgerutscht und ein 20 Meter großes Loch entstanden, durch das Wasser ausgetreten war. Erst nach zwei Monaten wurde die Lücke notdürftig geflickt. Im Mai mussten für weitere Reparaturen dann beide Becken trockengelegt werden. Durch das abfließende Wasser könnte das Rohr noch instabiler geworden sein und noch größere Lücken verursacht haben. Drei Wochen vor dem Dammbruch wurden die Becken wieder mit Wasser gefüllt. Vier Tage zuvor ging die Anlage wieder in Betrieb. Die Abwässer wurden in die Becken geleitet, doch durch das defekte Drainagerohr konnte das überschüssige Wasser nicht abfließen. Dazu kamen die Regenfälle und das Tauwetter, bis irgendwann der Druck zu groß wurde. Da bereits Wasser bis zur Außenseite vorgedrungen war, war der Sand feucht und der Damm instabil.
An der Rettungsaktion waren auch italienische Gebirgstruppen beteiligt
© London Express
Zudem finden die Ermittler heraus, dass seit 1974 Sachverständige die Sicherheitskontrollen überwacht haben, die jedoch offenbar nur unzureichend stattfanden. Den Unterlagen zufolge lag der Neigungswinkel des oberen Damms schon damals nicht mehr im Rahmen der Norm. Für das Staubecken war daher keine ausreichende Stabilität garantiert. Bei einer Stabilitätsprüfung stellte man bereits 1975 fest, dass die Neigung des Dammes des oberen Beckens „außerordentlich“ und die Stabilität „an der Grenze“ war. Trotzdem erteilte die das Bergwerk betreibende Gesellschaft der Minenaufsichtsbehörde und letztere der Gemeinde eine positive Antwort, sodass die Deponie weiter erhöht wurde – wenn auch mit einer geringeren Neigung des Dammes.
Doch auch der Untergrund war offenbar völlig ungeeignet, die Dämme zu stützen. Der Boden war zu sumpfig, um adäquate Entwässerung zu gewährleisten – wichtig für die Stabilität. Ohne ausreichende Bewässerung konnten die Dämme nicht austrocknen und damit fest werden. Hinzu kommt, dass die Fundamente für den oberen Damm teilweise in das untere Becken hineinragten – also der obere Damm auf die Sedimente des unteren Beckens gebaut wurde, anstatt auf festen Boden. Die ministerielle Untersuchungskommission und die vom Gericht Trient ernannten Gutachter stellten dazu fest, dass „die gesamte Deponie eine ständige Gefahr für das darunter liegende Tal darstellte“.
1988 wurde der Prozess eröffnet. Im Juni 1992 wurden zehn Menschen der fahrlässigen Verursachung einer Katastrophe und mehrfacher fahrlässiger Tötung für schuldig befunden. Davon waren acht verantwortliche Mitarbeiter der Gesellschaften, die das Bergwerk seit dem Bau der Becken betrieben hatten. Zwei waren Mitarbeiter der Kommunalbehörde, die für die Sicherheit zuständig waren. Alle wurden zu Haftstrafen verurteilt. Die Richter bemerkten in ihrem Urteil, dass ein Zehntel der Verfahrenskosten dazu ausgereicht hätte, die Becken so zu sichern, dass es nicht zur Katastrophe gekommen wäre. Der Schadenersatz von insgesamt mehr als 132 Millionen Euro zugunsten von 739 Geschädigten wurde im Jahr 2004 im Rahmen eines außergerichtlichen Vergleichs fast vollständig beglichen.
Heute erinnert eine Stiftung durch verschiedene Bildungsprojekte und Aufklärungsarbeiten an das Unglück vor 40 Jahren. Vor Ort gibt es zudem ein Infozentrum mit Lehrpfad. Jedes Jahr wird eine Andacht gehalten und eine Gedenkmesse gefeiert. Die Stiftung wolle sich jedoch nicht auf ein „kontemplatives Gedenken an die tragischen Ereignisse beschränken“, heiß es auf der Webseite. Vielmehr wolle man „zur Bewusstseinsbildung beitragen und das Verantwortungsgefühl fördern, das in Stava damals gefehlt hatte“.
Quellen: Stava-Stifung, National Geographic, DPA-Archivmaterial