M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier: Irgendwas zwischen Bayern und Spanien: Meine Ruhrpott-Heimat

Micky Beisenherz besucht sein Elternhaus und seine alten Freunde im Ruhrgebiet. Er fragt sich: Was, wenn er geblieben wäre?

Wir sitzen in der Abendsonne zwischen Teenagern, leeren Eisteepackungen und JBL-Boxen auf dem Gras des abschüssigen Ufers und schauen zwei Jugendlichen auf der Kanalbrücke zu. Der eine springt sofort. Der andere bleibt stehen. „Ist das überhaupt erlaubt, Papa?“, fragt mich meine Tochter. Ich antworte: „Oppa Klaus jedenfalls hat’s mir damals verboten.“ Damals, vor mehr als 30 Jahren, am Rande von Castrop-Rauxel, wo ich aufgewachsen bin. Es gab einen Supermarkt, einen Bäcker, die Grundschule. Und den Rhein-Herne-Kanal. In dessen trübes Wasser meine neunjährige Tochter soeben gesprungen ist. Und wieder. „Das hier ist viel schöner als die Elbe.“ Verwunderter Blick meinerseits. „Da darfst du ja nicht drin schwimmen, und hier kannst du einfach rein.“

Wie alle paar Monate sind wir gemeinsam auf Heimatbesuch. In meinem Elternhaus. Bis auf Omma Lore sind noch alle dort. Omma wäre jetzt 100 geworden. Hat sie nur um drei Jahre verpasst. Ach, Omma.

Micky Beisenherz über den Unterschied zwischen sozialen Netzwerken und einem Stadtfest

Ich besuche alte Freunde. Weiß-gelbe Markisen, Aperol in geflochtenen Outdoormöbeln. Die meisten haben sich einen Pool in den Garten gebaut. So ist meine Tochter am Samstagmorgen schon wieder in Badekleidung und treibt auf einem gewaltigen Schwimmring herum. Während ich mich mit meinem Freund Felix darüber unterhalte, wann und wie er sich dieses spektakuläre Haus in den Hang gebaut hat. Felix hätte auch nach Köln ziehen können oder Düsseldorf. Aber von Castrop kommste ja überall schnell hin. So sehen es hier viele.

Die Stadt lässt ihren 75.000 Einwohnern die lange Leine. Du kannst hierbleiben. Oder abhauen. Gründe gäbe es genug, wegzuwollen. Leerstand in der Fußgängerzone, in Rauxel gehen sie schon mal mit Macheten und Messern aufeinander los, Sanierungsstau allerorten.

Aber es entsteht auch etwas. Die Emscher wurde wundervoll renaturiert. Auf der Pferderennbahn wird wieder galoppiert. Die Buchhandlung hat eine neue Besitzerin. Es gibt tolle Lokale, die sich auf dem Stadtfest präsentieren. Mein Bruder, meine Schwägerin, die Nichten und Neffen, wir gehen zusammen hin. „Heeeey! Du auch hier! Wie toll, dich zu sehen!“ Keine Ahnung, wer das war. Da hinten steht Jan, der mit seinem leichten Silberblick und den Discomuskeln im Elasthanshirt noch exakt so aussieht wie damals. Er ist Wodka-Red-Bull als Mensch. „Ey, Beisenherz. Politisch seh ich wirklich alles komplett anders.“ Der erste Satz war ihm wichtig. „Aber ich mag dich trotzdem.“ Der zweite auch. Mit dieser Formel lässt sich gut der Unterschied zwischen sozialen Netzwerken und einem Stadtfest erklären. Menschen sind mehr als nur eine Position.

Beschreibt meine Tochter meine Heimat, klingt es oft wie irgendwas zwischen Bayern und Spanien. Viel Grün, nette Läden, wahnsinnig nette Leute. Sie liebt es hier, und ich hätte nicht gedacht, dass mir das so viel bedeutet. Manchmal rutscht der typische Ruhrie-Slang in ihr hanseatisches Idiom.

Verkulte ich gerade die eigene Herkunft? Sehe ich nicht die beschissenen Bahnhöfe in Duisburg und Herne? Die kippenden Viertel in Dortmund? Bin ich der Borchardt-Stammgast, der vom Käsebrot schwärmt, weil es so herrlich ehrlich ist – aber den es grauste, müsste er jeden Tag Käsebrot essen? Bin ich ein Großstadtlackel auf Kleinstadtexpedition, um sich wieder zu spüren? Später treffe ich Thomas, der als Rechtsphilosoph aus Berlin zurück nach Bochum gezogen ist, und frage ihn, wie es gelaufen sei: „Ich würde es jetzt nicht unbedingt verfilmen, aber es ist ein schönes Leben.“

So wie ihm geht es hier vielen.

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