Der Dalai Lama wird 90. Die halbe Welt scheint sich um ihn zu sorgen und zu fragen, wer ihm folgt – besonders aber in Hessen. In Hessen? Ja, und das ist gar nicht mal so kurios.
Er bezaubert mit seiner Natürlichkeit, und er inspiriert mit seiner unverwechselbaren Aura: Am Sonntag wird der Dalai Lama 90 Jahre alt, er steht wie kaum jemand sonst für Frieden und Versöhnung – und doch bahnt sich um ihn ein Drama an: Die Anhänger des 14. Dalai Lama bangen um seine Wiedergeburt und damit den Fortbestand dieses Pfeilers ihrer Kultur. Selbst in Hessen sorgt man sich. Rund fünfzig Mal hat Seine Heiligkeit in den vergangenen Jahrzehnten das Bundesland besucht, ein Freundeskreis um Ex-Ministerpräsident Roland Koch hält ihm die Treue. Und dort fragt man sich gerade: Hat die Welt den Dalai Lama vergessen?
Kurzer Rückblick: Der kleine Mann in der dunkelrot-orangenen Robe lächelt, winkt und strahlt. 18.000 Menschen sind nach Wiesbaden gekommen, um ihn zu sehen, ihn reden zu hören, mit ihm seinen 70. Geburtstag zu feiern. Der sagt: „Denken Sie nicht, dass ich etwas Besonderes wäre“, er sei doch nur „ein einfacher Mönch“, und „wenn Sie meine Ratschläge nicht für richtig halten, kümmern Sie sich einfach nicht darum.“ Es ist Juli 2005.
Drei Gründe gibt es für die Verbindung des Dalai Lama nach Hessen: Den hessischen Unternehmer Friedhelm Brückner, einen Freundeskreis namens „Freunde für einen Freund“ – und Roland Koch. 1987 trafen sich Roland Koch und der Dalai Lama zum ersten Mal, Koch war damals noch ein kleiner Politiker der Jungen Union. Es muss eine beeindruckende Begegnung gewesen sein, denn über die Jahre hinweg trafen sich die beiden immer und immer wieder – oft in aller Frühe am Frankfurter Flughafen, wenn der Dalai Lama einen Zwischenstopp einlegte.
„Er ist nicht aufgesetzt-freundlich, sondern eine Persönlichkeit, die Menschen extrem zugewandt ist, und die Menschen in sich aufnimmt“, erinnert sich Roland Koch heute. Als Ministerpräsident lud er den Mann, dessen reine Existenz für China Sprengstoff ist, wieder und wieder ein, 2005 ehrte er ihn mit dem Hessischen Friedenspreis. Der Dalai Lama hielt Reden im Hessischen Landtag, besuchte den Hessenpark und das Kloster Seligenstadt. Er hielt Vorlesungen in Universitäten, erhielt Ehrendoktorwürden und segnete das Tibethaus in Frankfurt – nur eines von drei weltweit, die seine Heiligkeit persönlich segnete.
Berlin verschloss dem Dalai Lama oft die Türen – Koch nicht
Und immer mahnte Roland Koch öffentlich kulturelle Freiheit für die Tibeter an, allem Druck der Chinesen zum Trotz. 1951 hatte China das kleine Bergland besetzt, 1959 kam es zum Aufstand gegen die Besatzer – in der Folge musste der Mann fliehen, der damals das religiöse wie weltliche Oberhaupt war: Tenzin Gyatso, Sohn einer Bauernfamilie, 1940 im Alter von fünf Jahren als 14. Dalai Lama inthronisiert. Jeder Besuch des Dalai Lama in Deutschland war von Protesten Chinas begleitet, die Politik in Berlin verschloss oft genug ihre Türen für den unbequemen Gast – Roland Koch hingegen forderte internationale Beachtung für das Schicksal Tibets ein. Eine Freundschaft zu China dürfe „nicht den Preis haben, dass eine friedliche Kultur untergeht“, mahnte Koch etwa 2015 beim Besuch des Dalai Lama in Wiesbaden.
Jetzt, kurz vor dem 90. Geburtstag des Dalai Lama, machen sie sich hier in Wiesbaden große Sorgen um das Oberhaupt der Tibeter und den Fortbestand der Institution des Dalai Lama.
„Hat die Welt den Dalai Lama vergessen?“ fragt der Titel eines Buches, das der ehemalige Chefredakteur des Wiesbadener Kuriers, Stefan Schröder, im Auftrag des Freundeskreises für den Dalai Lama geschrieben hat. Schröder hat zahllose Anekdoten rund um die Reisen des Dalai Lama in Hessen gesammelt, er erinnert an persönliche Begegnungen, an Reisen und Preise, an den großen Zauber des kleinen Mönches aus Tibet – und an den anhaltenden „kulturellen Genozid“ an den Tibetern.
„Die Gefahr, dass der Dalai Lama vergessen wird, ist groß“
Denn das Schicksal der Tibeter ist lange von anderen Krisen in den Hintergrund gedrängt worden, „die Gefahr, dass der Dalai Lama vergessen wird, ist groß“, sagt Koch. Dabei gehe es „um das Überleben eines ganzen Volkes“, sagt Kelsang Gyaltsen, langjähriger Sondergesandter des Dalai Lama in Europa. Und nun nimmt China auch noch für sich in Anspruch, den nächsten Dalai Lama zu bestimmen, jemanden einzusetzen, der eine Marionette der kommunistischen Partei wäre, treu gegenüber China. Für Tibeter sei es „völlig unverständlich, dass eine kommunistische Partei das religiöse Oberhaupt einer Glaubensgruppe bestimmen wolle, sagt Gyaltsen: „Die große Mehrheit der Tibeter wird einen chinesischen Dalai Lama niemals akzeptieren.“
Nur: China ficht das nicht an, was also wird aus Seiner Heiligkeit und den Tibetern, wenn der 14. Dalai Lama stirbt? Am Mittwoch äußerte er sich selbst zu der Frage: Ja, er sei bereit zur Wiedergeburt, die Institution des Dalai Lama werde fortbestehen – und einzig die von ihm gegründete gemeinnützige Organisation Gaden Phodrang Trust in Dharamsala verfüge über die Autorität, den nächsten Dalai Lama zu suchen und zu erkennen. Das darf man getrost als Kampfansage gegenüber China verstehen.
Was Koch vom Dalai Lama gelernt hat
Gyaltsen zeigte sich nicht überrascht: „Solange Zeit und Raum bestehen, so lange es das Universum gibt, so lange will ich immer wiedergeboren werden, um das Leid der Lebewesen zu lindern“, laute das tägliche Gebet des Dalai Lama. Daraus schöpfe der Dalai Lama seine Kraft und seine Hoffnung – Hoffnung, die sein unterdrücktes Volk der Tibeter so bitter nötig hat. „Die Mission darf nicht enden“, fordert denn auch Koch in seinem Nachwort zu Schröders Buch, denn eines habe er von Tensin Gyatso gelernt: Resignation und Aufgabe sei keine Option, „im Kreislauf der Geschichte der Menschen verliert nur der, der aufgibt.“
„Ich habe nie jemanden erlebt, der tiefgründig optimistischer ist als er“, sagt Koch. Der Dalai Lama habe immer ein großes Interesse an anderen Kulturen gehabt, eine ungeheure Neugier, „in unser Leben einzudringen, das habe ich sehr praktisch erlebt.“ Ein Stück Gelassenheit und die Fähigkeit, in größeren Zusammenhängen zu denken, das habe er von dem Dalai Lama mitgenommen, sagte Koch noch – und einen ganz besonderen Eindruck von seiner Aura. „Immer, wenn er irgendwo erschien – man mag es glauben oder nicht –, wurde die Welt dort, wo er war, ein Stück friedlicher, ruhiger, faszinierender.“