Mehr als 500 Tote: Der Tag, als eines der luxuriösesten Kaufhäuser Seouls plötzlich einstürzte

Am 29. Juni 1995 ist das Sampoong-Kaufhaus in Seoul gut besucht, als das fünfgeschossige Gebäudes einstürzt. Mehr als 500 Menschen sterben, fast 1000 werden verletzt.

Das Sampoong-Kaufhaus in Seoul gilt in den 1990er Jahren als eines der größten und exklusivsten Kaufhäuser der Stadt. Es liegt im Stadtteil Seocho-gu im Viertel Seocho-dong, einer wohlhabend Gegend der südkoreanischen Metropole. Diese gilt zusammen mit dem benachbarten Gangnam-gu als Symbol für den wirtschaftlichen Aufstieg und den neuen Wohlstand Südkoreas. Hier gibt es alles – von den neuesten technischen Geräten bis hin zur Designermode. Das Shoppingcenter hat rund 1000 Mitarbeiter und macht einen Umsatz von umgerechnet vier Millionen US-Dollar pro Woche. 

Das Luxus-Kaufhaus wurde auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie errichtet. Der 1989 fertiggestellte Gebäudekomplex hat vier Untergeschosse und fünf Obergeschosse. Täglich zieht es rund 40.000 Kunden aus den umliegenden Viertel an.  

Auch am Donnerstag, den 29. Juni 1995, ist das Kaufhaus gut besucht. Gegen 10 Uhr wird der Gebäude-Manager in eines der acht Restaurants in der 5. Etage gerufen. Mitarbeiter hatten einen großen Riss im Boden an einem Pfeiler entdeckt. Der Manager lässt das Restaurant schließen und den Bereich absperren. Die Mitarbeiter sollen jedoch niemandem etwas über den genauen Grund erzählen.

Kaufhaus-Besitzer weigert sich, das Gebäude zu schließen

Gegen Mittag hören Kunden im vierten Stock ein Geräusch. Im Untergeschoss arbeitet die 19-jährige Yoo-Ji-Hwan in der Haushaltsabteilung. Sie bemerkt ein Vibrieren. „Vielleicht bin ich ein wenig naiv, aber ich dachte mir nichts dabei“, erzählt sie in einer TV-Doku. Da der Gebäudemanager davon ausgeht, dass die Klimaanlagen das Vibrieren verursachen, schaltet er sie gegen 12.30 Uhr ab. Er informiert den Besitzer des Kaufhauses über die zehn Zentimeter breiten Risse in der Restaurantebene. Der bei dem Gespräch anwesende Ingenieur empfiehlt, das Kaufhaus für Reparaturen zu schließen, doch der Eigentümer lehnt ab, um den laufenden Geschäftsbetrieb nicht zu unterbrechen.

Von dem Sampoong-Kaufhaus in Seoul stehen nach dem Einsturz nur noch Teile der äußeren Seitenwände
© Yonhap

Um 17.40 Uhr erschallt ein lauter Knall vom obersten Stockwerk und die Decke gibt nach. Wenige Minuten später gibt es einen noch lauteren Knall von oben. Schließlich erschüttert um 17.52 Uhr eine massive Druckwelle das gesamte Gebäude. Sofort gehen die Alarmanlagen an. Kunden und Mitarbeiter rennen in Panik in Richtung der Ausgänge. Schließlich stürzt das fünfstöckige Kaufhaus innerhalb von weniger als zwanzig Sekunden vollständig ein. 1500 Menschen werden unter 42.000 Tonnen Schutz begraben. Aus den Trümmern steigen Rauch und Feuer aus – verursacht vom auslaufenden Benzin aus den verschütteten Autos in der Tiefgarage. Sofort eilen Rettungskräfte zur Unglücksstelle. Und auch Freunde und Verwandte machen sich auf die Suche nach ihren Liebsten und Angehörigen. Fernsehteams beginnen, das Horror-Szenario live zu übertragen. Krankenhäuser rufen die Bevölkerung zu Blutspenden für die Verletzten auf. Es herrscht absolutes Chaos.

Yoo-Ji-Hwan überlebt den Einsturz, steckt aber jetzt inmitten der Trümmer an einer Stelle fest, die nur halb so groß ist wie eine Telefonzelle. „Ich hatte ein Loch im Kopf. So groß, dass man einen Finger hätte durchstecken können. Ich wollte nicht sterben“. Auch die 19-jährige Park Seung-Hyun, die ebenfalls im Untergeschoss in der Kinderabteilung arbeitet, wird unter Tonnen von Schutt begraben.

Behörden in Seoul stellen Sucharbeiten ein

Ihre Freundin, mit der sie an dem Tag verabredet ist, eilt zum Einsatzort. „Ich war schockiert. So viele Verletzte mit blutenden Wunden“, erinnert sich Seo Hye-Jin. Sofort beginnt sie nach ihrer besten Freundin zu suchen. „Ich begann, mit bloßen Händen den Schutt wegzuschaufeln. Ich grub immer weiter, ohne zu wissen, was ich tat. Ich musste einfach etwas tun.“

Rund 1000 Rettungskräfte und Freiwillige suchen nach Überlebenden. Bis tief in die Nacht werden 200 Menschen aus den Trümmern gerettet, aber auch Leichen geborgen. Einen Tag nach dem Einsturz liegt die Zahl der Todesopfer bei 44. Mehr als 600 Personen werden immer noch vermisst. Weil der Verkehr zusammenbricht, müssen Hubschrauber eingesetzt werden, um schwer verletzte Menschen in Kliniken zu fliegen. Teilweise werden die Rettungsarbeiten von einsetzendem Monsunregen behindert. Da Teile der Ruine jederzeit zusammenbrechen können, werden die Bergungsarbeiten für die Helfer zu gefährlich. Am Ende des zweiten Tages geben die Behörde deshalb die Suche nach Überlebenden auf. Angehörige der Vermissten sind entsetzt und demonstrieren auf den Straßen. Sie fordern, dass die Suche weitergeht. Es kommt zu Ausschreitungen mit der Polizei. Schließlich gehen die Bergungsarbeiten weiter.  

Am Morgen des dritten Tages stabilisieren Ingenieure den vom Einsturz bedrohten Nordflügel mit Drahtseilen und die Rettungsaktion beginnt von neuem. Innerhalb weniger Stunden wird eine junge Frau aus dem Trümmern geholt. Sie stirbt jedoch kurz darauf in einem Krankenhaus. Jeden Tag kommen Verwandte, um Leichen zu identifizieren. Am vierten Tag steigt die Zahl der Toten auf 107. In den kommenden Tagen wird der Schutt immer mehr zusammengepresst und erdrückt die, die unter ihm begraben sind. Nach einer Woche wird die Rettungsaktion endgültig zur Bergungsaktion. 

Und doch geschieht das Unglaublich: Am neunten Tag wird der 21-jährige Student Choi Myong Suk aus den Trümmern gerettet. Er hatte auf Pappkarton gekaut und mit den Fingern Regenwasser eingesammelt. Zwölf Tage nach dem Einsturz und nachdem rund 21.000 Tonnen Schutt weggeschafft wurden, wird auch Yoo-Ji-Hwan endlich unter den Trümmern entdeckt. Um zu überleben, hat auch sie Regenwasser getrunken. Als sie ins Krankenhaus gebracht wird, hat sie mehr als zehn Prozent ihres Körpergewichts verloren. Ihre Verletzungen sind zum Glück harmlos.

Letzte Überlebende nach 16 Tagen aus Trümmern gerettet

Nach 16 Tagen wird wie durch ein Wunder auch Park Seung-Hyun aus den Trümmern geholt. „Ich hörte laute Maschinen über meinem Kopf und ich dachte, ich werde sterben“. Mit allerletzter Kraft beginnt sie zu klopfen, bis die Maschinen plötzlich verstummen und eine Stimme ruft: „Ist jemand da unten?“ Seung-Hyun kann es kaum glauben. Sie ist seit 377 Stunden in völliger Dunkelheit eingesperrt. „Ich dachte, jetzt bin ich gerettet. Ich werde leben.“ Ihre Freundin ist unendlich erleichtert: „Es war unglaublich. Ich konnte nicht aufhören zu weinen“, sagt sie. Sieben Wochen nach dem Unglück erklärt die südkoreanische Regierung die 80 noch als vermisst geltenden Personen offiziell für tot.

Insgesamt werden bei dem Unglück 937 Menschen schwer verletzt, 502 Menschen sterben – die meisten Opfer sind weiblich. Der entstandene Sachschaden beläuft sich auf etwa 216 Millionen US-Dollar. Er betrifft sowohl das Kaufhaus selbst sowie benachbarte Grundstücke.

Teile des Gebäudes fangen aufgrund des auslaufendes Benzins aus den verschütteten Autos in der Tiefgarage Feuer
© Nam Hun SUNG

Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen? Wie die Untersuchungen später ergeben, gibt es die ersten Anzeichen auf die Tragödie schon am frühen Morgen. Der Nachtwächter hat für den Gebäudemanager eine Nachricht hinterlassen. Er habe seltsame Geräusche vom Dach gehört. Um kurz nach 8 Uhr geht der Manager auf das Dach und entdeckt dort große Risse. Er weiß jedoch, dass zwei Jahre zuvor drei große Klimaanlagen verschoben wurden, nachdem sich Nachbarn über ihren Lärm beschwert hatten. Statt mit einem Kran hatte man sie mit Rollwagen quer über das Dach geschoben und ihr Gewicht von jeweils 15 Tonnen hatte offenbar die Hauptpfeiler des Gebäudes überstrapaziert. Immer, wenn sie jetzt anspringen, bebt das Dach und der Riss um den Pfeiler im Restaurant wird immer größer.

Änderungen während Bauphase führten zur Katastrophe

Zudem bemerkt der leitenden Ermittler, Professor Lan Chung, eine beunruhigende Diskrepanz zwischen den Entwürfen des Architekten und den Berechnungen des Ingenieurs: Die Durchmesser der Pfeiler wurden in den Plänen verkleinert. Laut Ingenieur sollten diese 80 Zentimeter haben, doch in den Plänen sind es nur 60. Welche Zahlenwerte wurden tatsächlich benutzt? Bei einer Messung am Unglücksort wird deutlich: Die Pfeiler sind nur 60 Zentimeter dick. Auch die Anzahl der Stahlträger, die die Pfeiler stützen sollte, wurde von ursprünglich geplanten 16 auf nur acht reduziert. „Meine Berechnung zeigte, dass dadurch die Belastungsfähigkeit um fast die Hälfte vermindert worden war“ so Lan Chung. Dennoch sei das Gebäude so konzipiert worden, dass es zweieinhalb Mal so stabil wie nötig war, erklärt er.

Was also hatte dann zur Katastrophe geführt? Bei weiteren Untersuchungen wird deutlich, dass die Stahlbewehrung, welche die Beton-Bodenplatten verstärken soll, an der falschen Stelle saß und der Abstand zwischen Oberseite und Stahlbewehrung zehn statt fünf Zentimeter betrug. Dies hat die gleiche Wirkung, als hätte man die Platte dünner gemacht. Hinzu kommt, dass das Gebäude ursprünglich als Bürokomplex mit nur mit vier Geschossen geplant war, die Geschäftsführung aber den Bau einer fünften Etage wollte und sich für ein Einkaufszentrum entschied. Die Baufirma lehnte den Weiterbau aufgrund von Statikproblemen ab – und wurde prompt gefeuert. Die Arbeiten wurden dann von einer betriebsinternen Baufirma weitergeführt und beendet. Auch war die fünfte Etage eigentlich als Rollschuhbahn gedacht, doch wieder änderte die Geschäftsführung in einer späten Bauphase ihre Meinung und wollte dort nun acht Restaurants unterbringen.

Besitzer von Sampoong-Kaufhaus muss ins Gefängnis

Weil man jedoch in koreanischen Restaurants traditionell auf dem Fußboden isst, musste eine Fußbodenheizung eingebaut werden und die Bodenplatten wurden dadurch entsprechend dicker und schwerer. Auch berücksichtige man das zusätzliche Gewicht durch schwere Küchengeräte nicht. Durch die erhöhte Belastung kam es vor dem Einsturz zu den Rissen im Fußboden.

Rettungskräfte tragen Yoo Ji-Hwan auf einer Trage ins Freie. Die damals 19-Jährige überlebte zwölf Tage in den Trümmern
© YUNHAP NEWS AGENCY/SIPA

Das Management versäumte also offenbar, sämtliche Designänderungen ingenieurtechnisch neu berechnen zu lassen. 

Als die Klimaanlage an jenem Nachmittag im Juni anspringt, bringt sie das berühmte Fass zum Überlaufen – und das Gebäude kracht in sich zusammen.

Der 73-jährige Besitzer des Kaufhauses, Lee Chun, wird später wegen fahrlässiger Tötung zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Sein Sohn, der 43-jährige Geschäftsführer Lee Han Sang, wird wegen Korruption und fahrlässiger Tötung zu einer sieben Jahre langen Haftstrafe verurteilt. Im Anschluss an die Katastrophe werden zahlreiche Fälle von Korruption und Betrug im Baugewerbe aufgedeckt und 23 weitere Personen für schuldig erklärt, davon zwölf Beamte. Sie werden zu Geld- oder Hafstrafen bis zu zehn Jahren verurteilt, weil sie Bestechungsgelder annahmen und illegale Bauänderungen genehmigten. „Die Angeklagten verdienen eine strenge Strafe, weil sie relevante Beamte bestochen und damit eine große Katastrophe verursacht haben“, begründet der Richter das Urteil.

Die Regierung lässt etliche Gebäude im ganzen Land inspizieren. Jedes siebte Hochhaus muss aufgrund baulicher Mängel umgebaut und vier von fünf Gebäuden umfassend renoviert werden. Insgesamt sind 98 Prozent der Gebäude betroffen. Nur eines von 50 wird als sicher eingestuft.

Quellen: National Geographic, Incident Investigation Report, „The Seattle Times”, mit Archiv-Material von DPA

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