In Kürze entscheidet die Mindestlohnkommission über eine Erhöhung. Die SPD will unbedingt 15 Euro durchsetzen, notfalls mit parlamentarischer Gewalt. Sie sollte es lassen.
Die SPD hat ein Trigger-Wort: Mindestlohn. Wenn Parteichef Lars Klingbeil es ausspricht, löst das beim Koalitionspartner Rhythmusstörungen aus wie der Chablis beim Herzkranken. Bereits im April, als der Kanzler noch nicht mal gewählt war, setzte Klingbeil den Trigger ein. Er betonte im Fernsehen, der gesetzliche Mindestlohn werde 2026 von 12,82 Euro auf 15 Euro steigen. Vorhofflimmern in der Union, CDU-Chef Friedrich Merz konterte umgehend: Über die Höhe des Mindestlohns entscheide die staatliche Mindestlohnkommission. Das sei Gesetz.
Warum tun die Genossen das, fragt man sich? Warum spielt die SPD gerade sogar mit dem Gedanken, die Entscheidung der unabhängigen Mindestlohnkommission, deren Verhandlungen in diesen Tagen auf die Zielgerade gehen, per Bundestagsbeschluss zu überstimmen, falls es keine 15 Euro werden? Sie hat das Gremium schon einmal anmaßend übergangen, 2022 unter Kanzler Olaf Scholz – und damit den Mindestlohn per Gesetz von 10,45 Euro auf 12 Euro gehievt.
SPD sucht neue Existenzberechtigung
Es hängt wohl zusammen mit der Suche nach einer neuen Existenzberechtigung. Denn die SPD kommt nicht voran. In Umfragen tritt sie auf der Stelle oder verliert sogar an Zustimmung, während die CDU zulegen kann. Die SPD würde offenbar gern wieder ein bisschen zu den Wurzeln zurück und bei den Arbeitern punkten, vor allem bei den rund sechs Millionen Niedriglöhnern. Den „hart arbeitenden Menschen“, die ihre Familien nicht ernähren können, wie es in den Reden der Genossen immer wieder heißt. Sie sparen dabei nicht mit Ungerechtigkeitslyrik, als gäbe es keine staatlichen Transferleistungen, die Härten abfedern.
Allerdings liegt die Partei dabei in zweifacher Hinsicht falsch. Zum einen laufen ausgerechnet die Arbeiter, wie sie die Meinungsforscher von Infratest dimap definieren (vorwiegend körperlich tätig), der SPD scharenweise davon. Im Februar wählten 38 Prozent die AfD – 2013 waren es erst sechs Prozent. Die SPD stürzte in diesem Zeitraum bei der Klientel von 27 auf zwölf Prozent ab. Auch deshalb fuhr sie dieses Jahr das schlechteste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte ein.
Der reale Mindestlohn ist höher als der gesetzliche
Zum zweiten spielt für den Großteil der heutigen Arbeiter in Industrie, Handwerk oder Dienstleistung der gesetzliche Mindestlohn kaum eine Rolle mehr. Ihre niedrigsten Stundenlöhne liegen schon jetzt teils weit darüber. Denn Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben sie in geübter Mitbestimmungstradition per Tarifvertrag ausgehandelt. Leiharbeiter beispielsweise erhalten 14 Euro, Maler und Lackierer 15 Euro, Dachdecker 16 Euro, Gebäudereiniger 17,65 Euro, Pflegekräfte 19,50 Euro.
Der gesetzliche Mindestlohn trifft vorwiegend Beschäftigte bei Firmen ohne Tarifbindung, also zuvorderst in kleineren Betrieben. Sie bilden kein SPD-nahes Milieu wie einstmals die Industriearbeiter. Man findet sie quer durch alle Branchen. Einige Berufsgruppen sind besonders betroffen, so das Statistische Bundesamt, darunter Küchenhilfen, Waldarbeiter, Erntehelfer, Friseure, Putzhilfen, Gebäudereiniger, Sicherheitsleute, Kurierfahrer, Callcenter-Mitarbeiter, aber auch Schüler und Studenten im Ferienjob. Am häufigsten kommt der Mindestlohn in Ostdeutschland vor, wo sich die SPD per se schwer tut.
Geringverdienende brauchen faire Verhandlungen
Für Geringverdienende sind die Beratungen der Mindestlohnkommission der Ersatz für eigene Tarifverhandlungen. Für sie ist es gut, wenn das Gremium mit viel Fingerspitzengefühl die Höhe des Mindestlohns definiert, denn er muss fair sein für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, damit Wirtschaft auch im Niedriglohnsektor fair funktioniert.
Hinzu kommt: Einfach nur 15 Euro bringt eher Bundesfinanzminister Klingbeil weiter als viele Betroffene, weil der höhere Mindestlohn auf Sozialleistungen angerechnet würde und somit die Staatskassen entlastet, während die Beschäftigten unterm Strich kaum mehr im Portemonnaie haben und Kleinbetriebe womöglich aus der Kurve fliegen. Schon deshalb sollte die SPD nicht versuchen, die Mindestlohnkommission erneut auszuspielen, nur um ein allzu üppiges Wahlversprechen (17 Prozent Mindestlohnerhöhung!) durchzusetzen.
Warum nicht neue Wähler unter den Alten finden?
Vor diesem Hintergrund sollten die Genossen auch die Koalition nicht mehr provozieren, sondern die überraschend lang anhaltende Ruhe wahren. Stattdessen könnten sie versuchen, mehr Wähler unter den Betagten zu finden. Die SPD ist bereits auf dem Weg von der Arbeiter- zur Rentnerpartei. Bei der letzten Bundestagswahl war fast die Hälfte der Wählerinnen und Wähler über 60 Jahre alt. Alte bilden eine ehrenwerte Klientel. Und sie hat Potenzial! Während die Zahl der Niedriglöhner (hoffentlich) durch einen fairen Mindestlohn und neues Wirtschaftswachstum schrumpft, gedeihen die Best-Ager-Brigaden: Bis 2035 steigt die Zahl der über 67-Jährigen von derzeit 16,4 Millionen auf mindestens 20 Millionen.
Also Völker, äh Sozis: Hört die Signale!