Was passiert, wenn das Immunsystem den eigenen Darm angreift – und wie man trotz einer chronischen Darmentzündung gut leben kann. Ein Betroffener erzählt seine Geschichte.
Ich erzähle meine Geschichte nicht, weil ich gern über Krankheiten rede. Sondern weil viel zu wenig über chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, kurz CED, bekannt ist. Viele verwechseln sie mit Reizdarm oder halten sie für ein Tabuthema. Dabei leben aktuell mehr als 300.000 Menschen in Deutschland mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa – und einer davon bin ich.
Ich war 16, als mein Körper plötzlich aus dem Takt geriet – mitten im Austauschjahr in den USA. Kurz nach meiner Ankunft bekam ich starken Durchfall. So heftig, dass ich es manchmal nicht rechtzeitig zur Toilette schaffte. Ich war in einem neuen Land, wollte dazugehören. Aber mein Körper machte nicht mit.
Was es noch schwieriger machte: In den USA brauchst du für den Gang zur Toilette während des Unterrichts einen „Hallpass“. Wenn es losging, musste ich erst um Erlaubnis bitten – das war jedes Mal ein Wettlauf gegen die Zeit. Um das zu vermeiden, begann ich, gelegentlich Mahlzeiten auszulassen. Es war wahnsinnig anstrengend. Aber ich kämpfte mich durch.
Chronische Darmentzündung: Erste Therapieversuche
Zurück in Deutschland gingen meine Eltern sofort mit mir zum Arzt. Schnell war klar: Ich habe Colitis ulcerosa. Mein Immunsystem greift fälschlicherweise den Dickdarm an. Die Entzündungen schädigen das Gewebe. Ich bekam hoch dosiert Cortison und Mesalazin, um die Entzündung zu stoppen.
In den Folgejahren verdrängte ich die Krankheit, auch weil ich kaum Beschwerden hatte. Ich wollte nicht der Typ mit dem kranken Darm sein. Ich studierte, reiste, feierte – wusste aber auch immer, wo die nächste Toilette ist und welche Lebensmittel ich besser weglasse. Zwölf Jahre lang hatte ich keine dauerhafte ärztliche Betreuung, nur gelegentliche Spiegelungen oder Kortison.
Nach einer kaufmännischen Ausbildung studierte ich BWL, heute arbeite ich im Finanzbereich. Auf mir lastet viel Verantwortung, ich arbeite viele Stunden. Dabei habe ich lange wenig auf mich geachtet. Als der Stress im Job zu groß wurde, kehrte die Krankheit zurück. Schnell wurde es schlimmer: ständige Durchfälle, Blut im Stuhl.
Plötzlich war Krebs ein Thema
Als ich daraufhin in Hamburg eine Schwerpunktpraxis fand, war das wie ein Aufwachen. Man nahm sich Zeit, erklärte mir Behandlungsmöglichkeiten, darunter Biologika, moderne Medikamente, die gezielt ins Immunsystem eingreifen. Auch bei mir wurde bald ein solcher Antikörper notwendig. Er hindert die Entzündungszellen daran, ins Darmgewebe einzudringen. Damit ging es mir rasch besser. Ich konnte wieder reisen, arbeiten, Sport treiben und bin sogar einen Marathon gelaufen.
Doch die Krankheit war immer da. Über die Jahre hatte sich mein Darm verändert, trotz der Medikamente war das Gewebe angegriffen. Nach einer Spiegelung sagte der Arzt, was sich schon zuvor abgezeichnet hatte: „Wenn Sie mein Bruder wären, würde ich Ihnen raten, den Darm entfernen zu lassen.“ Das hat mich erst mal komplett aus der Bahn geworfen. Eine Zweitmeinung kam zum gleichen Schluss. In etwa 15 Prozent der vergleichbaren Fälle findet man bereits bösartige Veränderungen. Auf einmal war ich ein Risikopatient, lief Gefahr, Darmkrebs zu bekommen.
Das war für mich schwer zu verstehen. Mir ging es gesundheitlich gut. Warum also den Darm entfernen lassen? Ich musste erst begreifen, dass mein Gefühl und der Zustand meines Darms zwei verschiedene Dinge waren. Ich habe mit meiner Partnerin besprochen, informierte mich, habe mir viele Fragen gestellt. Was ist, wenn etwas schiefgeht? Was bedeutet das für mein Leben, für meine Arbeit?
Ein neuer Darm aus Dünndarm
Im Mai 2022 war ich so weit: Mir wurde der gesamte Dickdarm entfernt. Die Operation lief nicht ohne Komplikationen, aber sie war erfolgreich. Ich fühlte mich die ganze Zeit gut aufgehoben, denn Klinik und Praxis arbeiteten eng zusammen. Fast ein Jahr lebte ich mit einem künstlichen Darmausgang. Heute erinnere ich mich nur noch vage an diese Zeit. Aus dem Ende des Dünndarms wurde mir ein sogenannter Pouch geformt, wie ein Auffangbehälter, der nun die Aufgabe des Dickdarms übernimmt. Ja, ich gehe acht- bis zehnmal am Tag zur Toilette, weil der Pouch nicht so viel Volumen fasst. Aber ich kann den Stuhlgang kontrollieren. Und die Krebsgefahr ist gebannt.
Heute esse ich bewusster, vermeide Blähendes und Fettiges. Cola oder Bier haben ihren Preis. Für den Fall der Fälle klebe ich mir eine Binde in die Unterhose. Ich habe gelernt, mich nicht mehr zu schämen, sondern gut vorzubereiten. Und vor allem rede ich heute offen über meine Erkrankung. Denn ich merke: Wenn ich mich sichtbar mache, wird es leichter.
Stress war mein größter Feind
Die Colitis verläuft in Wellen. Oft hat Stress die Schübe bei mir ausgelöst: ein Jobwechsel, schwierige Lebensphasen, Reisen mit zu viel Programm. Deshalb war es für mich irgendwann klar, dass ich nicht nur medizinische Hilfe brauche, sondern auch seelische. Ich war in Therapie, in Männergruppen, habe mich intensiv mit der Erkrankung beschäftigt. Denn so eine Diagnose betrifft nie nur den Darm – sie greift auch ins Selbstbild ein und stört das Vertrauen in den eigenen Körper. Heute bin ich vielleicht nicht gesund. Aber ich weiß, was mir guttut. Ich suche Ruhe in der Natur, achte auf Pausen und einen Alltag, der zu mir passt. Selbst wenn nicht alles immer klappt – ich könnte mehr Sport machen – habe ich ein deutlich besseres Bewusstsein für mich und meinen Körper entwickelt.
Was ich mir wünsche? Dass wir offener über solche Erkrankungen sprechen. Dass klarer wird, wie tief sie in das Leben eingreifen und wie gut man trotzdem damit leben kann. Wenn man die richtige Hilfe bekommt und früh anfängt, sich damit auseinanderzusetzen.
Ich habe dafür lange gebraucht. Aber heute kann ich sagen: Ich habe nicht nur meinen Alltag zurückgewonnen – ich lebe ein gutes Leben, in dem die Krankheit ihren Platz hat, aber nicht mehr mein Leben dominiert.