Tiktok-Stars: Klassik-Influencer zwischen Kunst, Ruhm und Spaß

Der Weg in die Herzen der Fans und zum Ruhm führt ganz oft über Tiktok und Co. Das gilt mittlerweile auch in der klassischen Musik. Wie gehen junge Musikerinnen und Musiker damit um?

Klassik ist verstaubt, langweilig und nur was für Leute jenseits der 60? Junge Musikerinnen und Musiker zeigen, dass es anders geht. In sozialen Netzwerken wie Tiktok oder Instagram werden sie mit Instrumenten wie Geige oder Klavier zum Star und begeistern als Klassik-Influencer ein junges Publikum für klassische und neoklassische Musik. Konzert-Musik im Handy-tauglichen Format – eine logische Entwicklung, die nach Meinung von Experten aber auch ihre Schattenseiten hat.

Servietten-Musik und „Bridgerton“-Kritik

Der Pianist Louis Philippson aus Mülheim an der Ruhr hat allein auf Tiktok etwa 800.000 Fans und spielt Konzerte mittlerweile vor ausverkauften Sälen, etwa bei der „Night of the Proms“. „Das ist crazy für mich“, sagt der 21-Jährige. Was ihn besonders freut: Fans aus dem Internet real im Konzertsaal zu treffen.

Auf seinen Kanälen geht es oft um Spaß an der Musik. Philippson geht auf Challenges ein, spielt mit verbundenen Augen Klavier oder versucht sich an einem Musikstück, dessen Noten auf einer Serviette abgedruckt sind. Und er nimmt die Klavierkünste von „Bridgerton“-Sweetheart Daphne aus der ersten Staffel der Netflix-Serie unter der Lupe. Seine Erkenntnis: Hätten sie mal einen richtigen Pianisten engagiert. „Hey, Bridgerton, call me!“

3,1 Millionen Fans im Tourbus

„Die sozialen Medien haben definitiv das Interesse von jungen Leuten unter 30 geweckt“, sagt der Pianist Tony Ann, der gerade um die Welt tourt mit einer Mischung aus gefühlvoller Neoklassik und Pop-Romantik. Seine 3,1 Millionen Instagram-Fans nimmt der 31-Jährige aus Kanada mit in den Tourbus inklusive Bar und Schlafzimmer oder zeigt Konzert-Ausschnitte.

Die Netzwerke sind für ihn ein Gradmesser für seinen Erfolg. „Wenn die Nachfrage in den sozialen Medien groß ist, dann gibt es wahrscheinlich auch dieselbe Nachfrage bei den Streamingportalen“, hat er festgestellt. 

Die größte Bühne der Welt

Auch die Konzertpianistin Annique Göttler aus dem Raum Stuttgart, Jahrgang 1995, gehört zu der Musikergeneration, für die Präsenz in Handy-tauglichen Formaten selbstverständlich ist. „Einen Instagram-Kanal und eine Website zu besitzen, ist die heutige Art einer Visitenkarte“, schrieb Göttler 2023 in einem Beitrag für den Deutschen Tonkünstlerverband in Passau. Social Media sei die „größte Bühne der Welt“, aber auch mit viel Konkurrenz. 

Schließlich hat das Publikum die Wahl: Lieber ein Abend im Konzertsaal oder Netflix auf dem Sofa? „Jeder, der nicht auf Social Media vertreten ist, hat damit deutlich schlechtere Chancen und fast schon von vornherein verloren“, findet Göttler.

Schönheitsdruck für Klassik-Influencer

Alles bestens? Die Kulturjournalismus-Professorin Dorte Lena Eilers von der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM) sieht manches kritisch. Viele junge Künstlerinnen und Künstler fühlten sich enorm gestresst durch die grenzenlose Sichtbarkeit von Konkurrenz, sagt sie. „Es geht um Schönheit und Spitzenleistungen im globalen Maßstab.“ Wer emotional nicht untergehen will, braucht eine robuste Psyche.

Anita Pongratz, ebenfalls von der Hochschule, bestätigt: „Jeder spürt den Druck ein möglichst perfektes, vollständiges, spannendes Profil zu haben, das bestmöglich zu pflegen, mit interessantem Content.“ Allein das sei aber bereits ein Vollzeit-Job.

Follower statt Kunst

Inzwischen ist Social Media im Konzertbetrieb also überlebenswichtig, auch um mit neuen Veranstaltern in Kontakt kommen. Institutionen, Veranstalter oder Musiklabels würden auf die Anzahl der Follower achten, sagt die Konzertdesign-Dozentin Hanni Liang von der Münchner Musikhochschule. „Die Gewichtung verschiebt sich.“ Teilweise würden Musikerinnen und Musiker allein aufgrund ihrer Social Media-Präsenz engagiert, „jedoch nicht wegen ihrer Kunst“.

Doch Kritik hin oder her – junge Menschen entdecken endlich wieder die Klassik und strömen in die Konzerte. Das mag auch an der Gestaltung der Abende liegen. „Ich rede zum Beispiel die ganze Zeit zwischen den Stücken“, erklärt Philippson. „Musik muss etwas Menschliches bleiben, etwas Nahbares.“

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