Nachruf : Als Schwarze im NS-Staat: Zum Tod von Marie Nejar

Als Kind überlebte Marie Nejar den Terror der Nationalsozialisten. Ihre Karriere in der frühen Bundesrepublik zeugte vom anhaltenden Rassismus. Nun ist sie mit 95 gestorben.

Ihr größter Erfolg war eines meiner Lieblingslieder als Kind. Als ich Anfang der Achtzigerjahre fröhlich mitsang, wenn „Die süßesten Früchte“ in der Jukebox unseres Dorfwirtshauses erklang, war die Karriere von Marie Nejar bereits seit zwei Jahrzehnten vorbei, die gebürtige Hamburgerin arbeitete zu diesem Zeitpunkt längst als Krankenschwester in ihrer Heimatstadt.

Marie Nejar, mehr als ein Schlagerstar

Ich halte das Lied bis heute für einen der wichtigsten Schlager Deutschlands,  beherrsche den Text auswendig und trage ihn manchmal auf privaten Geburtstagsfeiern vor. Er erzählt die allegorische Geschichte einer Entenmutter, die ihrem Küken die Welt erklärt, in der nun einmal nicht alle den gleichen Zugang zu Luxusgütern haben könnten. Das Entenkind begehrt die „herrlichsten Kirchen am Baum“, muss aber erfahren: „Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere/Nur weil die Bäume hoch sind und diese Tiere groß sind/Die süßesten Früchte schmecken dir und mir genauso/Doch weil wir beide klein sind, erreichen wir sie nie.“

Welche Doktrin diesen Zeilen innewohnt war mir natürlich nicht bewusst,. Heute wundere ich mich, dass es darüber keine dicken soziologischen Abhandlungen gibt, welches Gesellschaftsbild der 50er hier fröhlich verkündet wird. Das Entelein zieht zwar aufsässig vor Gericht, um den Zugang zu höheren Genüssen einzuklagen, doch, so der Richterspruch,  die Kleinen „tragen ihr Schicksal nach altem und tierischem Brauch, wie andere auch.“

Mit Peter Alexander zum Nachkriegs-Idol

Nicht minder außergewöhnlich sind die beiden Interpreten, die das Lied in einem Unterhaltungsfilm des österreichischen Wald- und Wiesenregisseurs Franz Antel darbieten. Peter Alexander, einer maßgeblichen Unterhaltungsstars der Nachkriegszeit, und Marie Nejar, die unter dem Pseudonym „Leila Negra“ auftrat, auftreten musste. Der damals 27-Jährige Wiener Strahlemann, hatte im Krieg als Flakhelfer gedient, war kurz bei der Marine und dann in Kriegsgefangenschaft gewesen. Die nur vier Jahre jüngere Marie Nejar, die an seiner Seite als Kind aufgetreten war, konnte auf eine weit längere Erfahrung im Showgeschäft zurückblicken. 

Schwarzes Mädchen von St. Pauli

Marie Nejar sollte ihre eigentliche Geschichte erst viel später erzählen. Sie hatte als Tochter einer Deutschen mit Wurzeln in Martinique und eines Schiffsstewards aus Ghana bei der Großmutter auf St. Pauli gelebt, wo sie den Rassenhass der Nationalsozialisten, wie sie in Interviews erzählte, erst nur sachte erfahren musste. „Ausländer waren durch den Hafen bekannt. Man sah schwarze Matrosen, man sah Japaner, Chinesen. Und ich war ein kleines Kind“, sagte sie 2015 der Zeit.  Anfang der 40er-Jahre wurde sie auf Erlass des Propagandaministers Joseph Goebbels aus der Schule geholt, um mit Heinz Rühmann in „Quax der Bruchpilot“ und „Quax in Afrika“ als Nebendarstellerin aufzutreten. Ostseedünen dienten als afrikanische Wüste, als Statisten bediente man sich dunkelhäutiger Menschen wie Nejar. 

Nach dem Krieg sollte sie unter dem rassistisch aufgeladenen Pseudonym, den man ihr verpasste, ein Star werden. Einer ihrer großen Erfolge thematisiert unter Nennung des N-Wortes das Schicksal Afrodeutscher. „Wenn die weißen Kinder im Park nicht mit uns spielen wollten, weil die Erwachsenen sagten, dass sie es lassen, sollten“, singt die 21-jährige 1951 mit der signifikanten glockenhellen Kinderstimme. Es ist befremdlich, das heute zu hören. „Immer wieder kamen nach meinen Auftritten junge weiße Mütter mit schwarzen Kindern hinter die Bühne, um mir zu erzählen, wie ihr Töchter oder Söhne angefeindet wurden“, erzählte sie.

Marie Nejar war eine wichtige Zeitzeugin in so vielerlei Hinsicht. Sie erzählt von der Geschichte der Afrodeutschen, die so viel länger zurückreicht, als jene von Nachkriegskindern schwarzer Gis bezeugt. Erst später rückten etwa die Biografien von etwa Hans-Jürgen Massaquoi, ebenso 1926 in Hamburg geboren, und damit die Schicksale Schwarzer im NS-Staat in das Licht des Erinnern. Es sind die Erzählungen Deutscher, die aufgrund ihrer Hautfarbe verfolgt, Opfer von Sterilisation und Ausgrenzung wurden, deren Schicksale dennoch widersprüchlich und wenig konform verliefen. Etwa des schwarzen preußischen Militärmusikers Gustav Sabac el Cher, der 1934 mit 66 Jahren verstarb, und dessen Witwe vom greisen Ex-Kaiser Wilhelm II. noch einen Kondolenzbrief aus dem holländischen Exil erreichte.

Marie Nejars Autobiografie hat diese viel zu wenig beachteten Historie um einen vielfältigen Aspekt erweitert. Sie hatte als Kind im liberalen Hafenviertel erst nicht verstanden,  sogar begeistert Nazi-Lieder auswendig gelernt, und wollte dem Bund Deutscher Mädel beitreten. „Ich kam da freudig strahlend an, da sagte einer: Was willst Du denn hier, das ist ja eine Schande!“, erzählte sie. Nejar wurde im Nazi-Reich auf St. Pauli von einem jüdischen Arzt, einer Lehrerin, sogar Polizisten beschützt und gewarnt. Schließlich sollte sie in der NS-Propaganda das kolonialistisch geprägte Bild der Wilden und Primitiven als Statistin personifizieren. Am Set von „Münchhausen“ sollte sie andere Afrodeutsche wie Theodor Wonja Michael treffen, der später ebenso Zeugnis über seine Erfahrungen abliefern sollte. 

Eine Geschichte jenseits von Postkolonialismus

Wenn ich heute auf Youtube dieses eine Lieblingslieder meiner Kindheit betrachte, beschleicht mit mich eine große Beklemmung. Es zeigt mir, wie sehr mich postkoloniale Muster als Kind der Siebziger  prägten, im Falle von Nejar auch positiv. Sie hat zwar rassistische Motive unbewusst übernommen und – auch an mich – weitergereicht. Gleichzeitig das Bewusstsein der Normalität schwarzer Menschen, auch wenn sie damals in meiner direkten Umgebung und eigenen Schulklasse nicht zur Realität gehörten.

Marie Nejar gehörte zu den ersten schwarzen Menschen meiner bewussten Wahrnehmung. Schnell folgten jene der Popkultur, James Brown, Aretha Franklin, Jessie Norman, Michael Jackson – sowie der Ehemann der evangelischen Pfarrerin des Dorfes meiner Kindheit. Marie Nejar hat die vergangenen Jahre in meiner Nachbarschaft in einer Hamburger Altersresidenz verbracht. Wir sind uns nie begegnet, sie war und bleibt mir dennoch für immer sehr nah.

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