Es ist der letzte große öffentliche Auftritt von Olaf Scholz als Kanzler. In der KZ-Gedenkstätte Neuengamme wirbt er 80 Jahre nach Ende des Kriegs dafür, ein in Frieden geeintes Europa zu verteidigen.
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und autokratischer Bestrebungen weltweit hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Verteidigung und Bewahrung eines geeinten Europas aufgerufen. Deutschland komme dabei aufgrund seiner Geschichte eine besondere Verantwortung zu, sagte der scheidende Kanzler bei einer Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager in der Hamburger KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
„Eine der ganz zentralen Lehren aus dem von Deutschen angezettelten Krieg, aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, aus dem Mord an Millionen unschuldigen Frauen, Kindern und Männern ist unsere tiefe Überzeugung, dass unser Kontinent, dass wir Europäerinnen und Europäer Krieg zwischen unseren Völkern ein für alle Mal hinter uns lassen müssen“, sagte Scholz bei seinem letzten großen öffentlichen Auftritt als Kanzler vor mehreren Hundert internationalen Gästen, darunter Holocaust-Überlebenden und Opferangehörigen.
Scholz: Autokraten und Populisten wollen Europa zerstören
Europa sei mit Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit „der lebende und atmende Gegenentwurf zu den mörderischen Gräueln des Krieges“ und daher mit kriegerischem Imperialismus und der Verachtung für das internationale Recht nicht vereinbar. „Und so ist es kein Wunder, dass Autokraten, Extremisten und Populisten weltweit und auch in unseren Ländern dieses friedliche und vereinte Europa angreifen und zerstören wollen“, sagte Scholz.
Gerade Deutschland dürfe das nicht zulassen, „weil wir um die Abgründe wissen müssen, die mit Imperialismus, Entrechtung und Rassenhass einhergehen“.
Tschentscher: Demokratie nicht allein durch Gesetze zu verteidigen
Auch die Verbrechen der Nationalsozialisten und der Holocaust hätten mit Diskriminierungen, Populismus und menschenfeindlicher Propaganda begonnen, „die dann in kurzer Zeit zur Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat, zu systematischem Rassismus und Menschenverachtung geführt haben“, sagte Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher. „Der 80. Jahrestag des Kriegsendes mahnt uns, diesen Tendenzen entschlossen entgegenzutreten.“
Demokratie und Freiheit ließen sich nicht allein durch Gesetze und Gerichte verteidigen. „Wir alle müssen jederzeit dafür eintreten – durch konsequentes Handeln gegen Antisemitismus, Populismus und jede Form der Diskriminierung, mit einer klaren Haltung für Toleranz, Humanität und Freiheit.“
Unter den Teilnehmern der Gedenkveranstaltung waren Angehörige ehemaliger Häftlinge aus 14 Ländern, darunter aus Polen, Israel und der Ukraine. Die in Berlin geborene KZ-Überlebende Helga Melmed, die aus den USA zur Gedenkfeier nach Neuengamme gekommen war, zeigte sich aufgrund der politischen Entwicklungen weltweit besorgt.
KZ-Überlebende: Hypnotisierende Propaganda bahnt sich ihren Weg
Heute sei wieder Chaos in der Welt und eine „hypnotisierende Propaganda“ bahne sich wieder den Weg in die Gehirne vieler Menschen. „Ich frage mich, ob die führenden Akteure der Weltpolitik immer wieder dieselben Fehler begehen. Wo sind die anständigen und wahrhaftigen Führungspersönlichkeiten?“, fragte die 97-Jährige. „Wir alle müssen die Stimme erheben gegen Hass und Unterdrückung, wo immer und wann immer wir darauf stoßen.“
Im KZ Neuengamme und seinen 85 Außenlagern waren nach Angaben der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte mehr als 100.000 Menschen inhaftiert worden. Mindestens 42.900 kamen ums Leben.
Als britische Soldaten am 3. Mai 1945 Hamburg kampflos besetzten und das KZ erreichten, war dieses bereits von der SS geräumt worden und die Insassen waren teils auf Todesmärschen in andere Lager verlegt worden.
Am selben Tag starben fast 7.000 Häftlinge bei einem britischen Luftangriff auf Schiffe in der Lübecker Bucht. Die SS hatte Gefangene aus Neuengamme an Bord der „Cap Arcona“ und der „Thielbek“ gebracht. Was mit ihnen geschehen sollte, ist nicht geklärt.