Kolumne: Ganz naher Osten: Baseballschlägerjahre in Blau – oder: Die Rückkehr der Angst

Die Übergriffe von Neonazis steigen auf neue Rekordwerte, nicht nur, aber vor allem in Ostdeutschland. Es ist fast wieder wie in den 1990er-Jahren – mit einem Unterschied.

In der kleinen Stadt, in deren Nähe ich aufwuchs, irgendwo am Rande des Thüringer Waldes, existiert immer noch jene solitäre Kneipe, in der in unregelmäßigen Abständen Bands auftreten. Weil ich zu Ostern mal wieder in der alten Heimat war und die Nichte ihren Vater (als Chauffeur) und mich (als Mitläufer) mit zum Konzert nahm, stand ich zwischen lauter jungen Menschen und hörte zu, wie auf der Bühne ebenso junge Menschen versuchten, möglichst aufmüpfig zu klingen. 

Und wie das bei jungen Menschen schon seit einer Weile schick ist, wirkte alles ausgesprochen retro. Mir erging es an dem Abend wie beim fast schon gewohnten Anblick der unwiederholbar geglaubten Mode- und Frisursünden: Es amüsierte und berührte mich gleichermaßen, wie vier als Punkrocker verkleidete Jungs Nina Hagens vergesslichen Michael verschrammelten, Johnny Cash im Folsom Prison zurichteten und schließlich sogar noch gratismutig gegen die „dummen Faschos“ ansangen. 

Es war wie einst, als ich noch jung war. Oder eben wie jetzt.

Gegen die Neonazis

Denn der Anlass für das Absingen antifaschistischen Liedgutes war aktuell. Ein 21-jähriger Mann, der auch noch eher als Junge durchgehen dürfte, hatte auf dem Universitätscampus, der an die Stadt angrenzt, gezielt auf Studenten geschossen, mit Kunststoffmunition. Von den acht Verletzten stammte die Mehrheit aus dem Ausland.

Die Tat erinnerte mich an die Zeit vor drei Jahrzehnten, als Ähnliches ständig geschah. Neonazis hetzten, verprügelten und ermordeten Ausländer. Sie attackierten linke Szenetreffs, zündeten Flüchtlingsheime an und bedrohten im Zweifel jeden, der irgendwie anders aussah oder potenziell anders dachte. 

Die Meldungen kamen überproportional aus Ostdeutschland, aus Rostock, Hoyerswerda oder Magdeburg, aber auch aus Mannheim, Mölln oder Solingen. Dabei wurde das meiste gar nicht berichtet, die alltäglichen Übergriffe auf den Schulhöfen, die rituellen Schlägereien vor den Dorfdiscos, das permanente Gefühl, nicht sicher zu sein. 

Ich selbst wurde nie direkt zum Opfer. Doch für viele, die ich kannte, waren es Jahre der Angst. Die Baseballschlägerjahre. Den Begriff erfand der „Zeit“-Autor Christian Bangel, nachdem er seine Brandenburger Antifa-Jugend in dem wirklich guten Roman „Oder Florida“ verarbeitet hatte. Die Perspektive der anderen Seite der Front lässt sich beim „Taz“-Kollegen Daniel Schulz („Wir waren wie Brüder“) eindrucksvoll nachlesen.

Ich bin etwas älter als die beiden. Ich studierte schon in Jena, als dort die NPD, der selbst ernannte „Heimatschutz“ und sogenannte Kameradschaften die Neubaugebiete beherrschten. Wer mit dunkler Haut in der falschen Straßenbahn unterwegs war, durfte nicht mit Gnade rechnen.  

Erst als 1998 nur zehn Radminuten von meiner Studentenbude entfernt eine Bombenwerkstatt aufflog und die beteiligten Rechtsextremisten untertauchen mussten, wirkte es so, als versuchten Regierungspolitiker und Behörden, die Lage endlich ernst zu nehmen. Tatsächlich wurde es in den Jahren danach scheinbar ruhiger. Die Verbrechen von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe galten ja bequemerweise lange Zeit als „Dönermorde“ einer, was sonst, ausländischen Drogenmafia.

Erst als im November 2011 der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) aufflog, zeigte sich das strukturelle Versagen von Verfassungsschutz und Polizei, aber auch der systematische Selbstbetrug von Politik, Medien und uns allen. Es folgten Untersuchungsausschüsse, Behördenreformen und einer der größten Gerichtsprozesse der deutschen Geschichte – und der erste vergebliche Versuch, die NPD zu verbieten. Und ja, wir Journalisten berichteten mehr als jemals zuvor. 

Der multiple Skandal um den NSU erschien nicht nur mir als Zäsur. Nie wieder würden Neonazis national befreite Zonen ausrufen. Nie wieder würden Rechtsextremisten in Kleinstädten und Dörfern den Ton angeben. Nie wieder würde die Angst zurückkehren.

Das Ende einer Illusion

Aber wie das mit den „Nie wieder“ so ist: Sie sind ein Appell, eine Hoffnung, ein Versprechen – und oft genug eine Illusion.

Alles kommt zurück, nur halt anders, als man denkt. Bereits in dem Jahr, in dem der Prozess gegen Beate Zschäpe begann, gründete sich die AfD, die neben Rechtskonservativen und Neoliberalen auch völkische Extremisten anzog und sich über die Jahre immer weiter radikalisierte. Inzwischen ist sie der politische Hegemon auf dem Land im Osten und auch im alten Westen auf dem Vormarsch.

Natürlich dementiert die AfD-Spitze jede Verbindung zum organisierten Rechtsextremismus, abgesehen von einigen gar betrüblichen Irrläufern und Einzelfällen vielleicht. Aber jenseits von journalistischen Recherchen, staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und meinetwegen auch Berichten des Verfassungsschutzes reicht es eigentlich schon als Evidenz, auf eine beliebige Demonstration oder Veranstaltung der AfD zu gehen und sich dort umzuschauen oder -hören.

Bekanntlich wird zurzeit wieder einmal erbittert darüber gestritten, ob der Zugang zu parlamentarischen Ämtern die AfD, doofes, aber passendes Wort: normalisieren würde. Für beide Seiten gibt es Argumente, wobei ich finde, dass eine Grenze erst an der Stelle, an der die AfD Gestaltungsmacht bekäme, sinnvoll zu ziehen ist.

Was aber unzweifelhaft feststeht: Der Erfolg der AfD hat den rechten Radikalismus normalisiert. Die Extremisten treten immer selbstbewusster auf. Sie demonstrieren durch die Innenstädte, stehen an den Straßen mit Schildern, hissen Flaggen auf ihren Gartenhäusern. Sie bedrohen Bürgermeister und Abgeordnete, Lehrerinnen und Feuerwehrleute, Ehrenamtliche und Journalisten.

Die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten steigt auf immer neue Rekordwerte. Und längst gibt es neue Orte, die mit Mordtaten verbunden sind, wie Hanau, Halle oder Istha, wo Walter Lübcke erschossen wurde.

Dies festzustellen, relativiert nicht den Terror, der in den vergangenen Monaten Magdeburg, Mannheim oder Aschaffenburg heimsuchte. Es negiert nicht die Gewalttaten und Brandanschläge linksradikaler Gruppen. Und es blendet nicht aus, dass auch Funktionäre und Büros der AfD angegriffen werden. 

Anstatt sich in Whataboutism zu ergehen, gilt es, die Gleichzeitigkeit komplexer, weil gesellschaftlicher Vorgänge zu ertragen. Parallel zu der Angst vor dem nächsten islamistischen oder geistig gestörten Amokläufer wächst eben auch wieder die Angst vor der rechtsextremistischen Gewalt, auf der Straße, im Netz, in der Schule, im Park, bei der Kirmes.

Der Unterschied zu den 1990ern ist jedoch: Es existiert jetzt eine große Parlamentspartei, die damit offenkundig kaum ein Problem hat – und die sogar Schnittmengen mit den Tätern besitzt, ideologisch, strategisch, persönlich. Das macht die Situation noch bedrohlicher.

Alle bislang erschienenen Kolumnen von Martin Debes finden Sie hier.

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