Interview: Sprach-Experte Matthias Heine: „Ich feiere den Deppen-Apostroph“

Der Autor Matthias Heine hat die Geschichte des Sprachwandels untersucht. Für die gendergerechte Sprache sieht er keine Zukunft.

Herr Heine, haben Sie schon den diesjährigen Beitrag Deutschlands zum Eurovision Songcontest gehört?
Nein, wieso fragen Sie?

Das Duo Abor & Tynna stammt aus Wien, viele deutsche Fans wundern sich über den Begriff „Trottoir“ im Liedtext. In Ihrem neuen Buch erfährt man warum: Im deutschen Kaiserreich wurden aus dem Französischen stammende Begriffe durch neudeutsche ersetzt, in Österreich nicht. Dort sagt man bis heute zum Gehsteig „Trottoir“ und zur Zimmerdecke „Plafond“.
Erst einmal ist es eine großartige Nachricht, dass ein Betrag mit deutschem Text ins Eurovisions-Rennen geht. Das war seit vielen Jahren, soweit mir bekannt ist, nicht der Fall. Lange vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs gab es abenteuerliche Versuche, die deutsche Sprache deutscher zu machen. Zeitweise hatten sich Dichter, Sprachforscher und Adelige zu einem Verein namens „Fruchtbringende Gesellschaft“ zusam­men­geschlossen, um für Modewörter aus dem Italienischen und Französischen Alternativen zu finden. Man erdachte Begriffe wie „Augenblick“ für Moment, „Briefwechsel“ für Korrespondenz, „Abstand“ für Distanz, die sich schließlich durchsetzen. Anders als etwa „Schiffhalter“ für Anker oder „Jungfernzwinger“ für Kloster. 

Über den Sprachwandel: Matthias Heine, 1961 in Kassel geboren, hat in Braunschweig Germanistik und Geschichte studiert. Der Feuilletonist und Autor hat mehrere Bücher über Sprache verfasst
© Martin Lengemann/WELT

Erst an jenen Begriffen, die sich nicht durchsetzen, lässt sich die Radikalität der historischen Reformer erahnen. Stichwort: „Meuchelpuffer“ – so wollte man die Pistole umbenennen.
Der „Meuchelpuffer“ ist legendär. Seit Jahrhunderten tobt ein Sprachkampf, der nach Reinheit der Sprache strebt. Dabei ist es völlig normal, dass sich Fremdwörter in eine Sprache integrieren. Der Sprachreformer Zesen wollte im 17. Jahrhundert „Kwälle“ statt Quelle schreiben und den Buchstaben „C“ zur Gänze aus dem Alphabet tilgen. Selbst Friedrich Gottlob Klopstock hatte Ende des 18. Jahrhunderts den Plan, „Follendung“ statt Vollendung oder „stez“ statt stets zu schreiben.

Welche Sprachreformer erscheinen Ihnen im Rückblick am radikalsten?
Ich würde sagen: die Brüder Grimm

Ausgerechnet die honorigen Schöpfer des Deutschen Wörterbuchs?
Jakob und Wilhelm Grimm lagen mit ihrem Verleger im permanenten Streit, weil sie eine radikale Kleinschreibung durchsetzen wollten oder eine völlig veränderte Orthografie. Das Deutsche Wörterbuch der Grimms war ein Kompromiss – der bis heute das Lesen dieses wichtigen Buches unnötig erschwert. 

Sie haben in Ihrem Buch „Der große Sprachumbau“ die Geschichte des deutschen Sprachwandels zusammengefasst. Selbst der große Martin Luther musste im 16. Jahrhundert auf Tricks zurückgreifen, um die Vielzahl seiner Neuschöpfungen durchzusetzen. Wie ist ihm dies gelungen?
Martin Luther hat bei seiner Bibelübersetzung behauptet, daran wäre gar nichts grundlegend neu, sondern er würde die für überregionale Korrespondenz genutzte Sprache der Kanzleien von Kaiser und Kurfürst verwenden. Er hat an seiner Einheitsübersetzung der Bibel lange gearbeitet, es gibt viele unterschiedliche Fassungen. Bekanntermaßen stammen viele heute geläufige Begriffe und Redewendungen aus seiner Feder. 

Feuereifer, Herzenslust, Lockvogel, Lückenbüßer, Rotzlöffel, Mördergrube, Schandfleck …
Ich bin mir nicht sicher, ob ihm selbst von Anfang an klar war, wie radikal er dabei vorgehen musste und wie weitgehend die Umwälzung sein würde, die er damit auslöste. Man erkennt an der Schönheit und Originalität seiner Wortschöpfungen, dass es ihm große Lust bereitet hat. Von allen Menschen, die an der deutschen Sprache gearbeitet haben, ist er ganz sicher der Einflussreichste. 

Sprachwandler Martin Luther 1530 auf einem Gemälde von Lukas Cranach
© imagebroker.com

Martin Luther gilt als Erfinder der einheitlichen deutschen Sprache. War ihm bewusst, dass er den Grundpfeiler einer Nation legen würde
Ganz sicher nicht. Niemand konnte den Nationalstaat, den es erst Jahrhunderte später geben sollte, vorausahnen. Aber natürlich war es sein erklärtes Ziel, eine im gesamten deutschen Sprachraum verständliche Sprache zu schaffen, an welchem fortan emsig gearbeitet wurde. Etwa von Martin Opitz oder Johann Christoph Gottsched. Durch sie entstand eine Literatursprache, die es allen ermöglichte, die deutschen Klassiker zu lesen und zu verstehen. 

Sie schreiben launig und oft begeistert über die Sprachreformer vergangener Jahrhunderte. Warum blicken Sie ablehnend auf die heutigen? Etwa Lann Hornscheidt, die zugunsten der Gendergerechtigkeit anstelle von Professor oder Professorin „ProfX“ schreiben möchte?
Die Reformer unterschiedlicher Epochen waren Sprachwissenschaftler, die zur Fortentwicklung des Deutschen beitragen wollten. Jedoch nie war es zu einem derartigen Generalangriff gekommen, wie wir ihn heute erleben. Dass Teile der Politik, der Obrigkeit, des staatsabhängigen Rundfunks, der Kirchen und anderer Institutionen sowie weite Teile des Großkapitals ein Bündnis eingehen, um eine neue Sprache gegen die Expertise der Fachleute durchzusetzen, sollte stutzig machen. Die Beweislast liegt stets bei den Erneuerern, die unumstößliche Argumente für Reformen vorbringen müssen. Doch die Propagandisten der vermeintlich geschlechtergerechten Sprache können das nicht. Es gibt bis heute keinen Nachweis, dass unser Deutsch Frauen oder nicht-binäre Personen tatsächlich diskriminiert oder von ihnen konstruierte neue Formen Gleichberechtigung befördern. 

Ihr Groll gilt auch der Rechtschreibreform aus den Neunzigern, die sich in weiten Teilen durchgesetzt hat. Warum sollte das nicht auch mit dem Gendersternchen passieren?
Sie sagen es selbst: Diese Reform, welche im Übrigen auf eine Rechtschreibreform der Nationalsozialisten aus den Vierzigern zurückgeht, findet heute nur teilweise Anwendung. Vieles wurde zurückgenommen. Echter, tiefgehender, nachhaltiger Sprachwandel lässt sich nicht durch eine behördlich angeordnete Leitkultur diktieren. Erst wenn Millionen Menschen, ohne darüber nachzudenken, neue Begriffe verwenden oder bislang als falsch Geltendes zur Regel machen, ist es Sprachwandel. Niemand hat am Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen gesagt: Ach komm, wir sagen jetzt mal nicht mehr „meves hus“, sondern „mein neues Haus“. 

Gibt es aus jüngerer Zeit einen solchen Wandel?
Den sogenannten „Deppenapostroph“, der vor einiger Zeit legitimiert wurde.

Damit wurde ein fehlerhaft gesetzter Apostroph bezeichnet, der auffällig oft auf Werbeschildern von Friseurläden oder Landkneipen auftaucht: „Rita’s Lockenshop“, „Johnny’s Kneipe“ und dergleichen. Der ist jetzt erlaubt?
Hochoffiziell vom Regelwerk der deutschen Rechtschreibung genehmigt. Obwohl ich in Sprachfragen als konservativ gelte, habe ich das gefeiert. Es war tatsächlich Sprachwandel von unten. Es hat sich durchgesetzt, weil die Leute es wollten. Mein Buch wendet sich nicht generell gegen Sprachwandel, wie Sie nach der Lektüre wissen, sondern gegen den Versuch einer Obrigkeit, einen solchen gegen den Willen der Mehrheit durchzusetzen.  

Sollten Fremdwörter durch Neukreationen ersetzt werden – oder ist das heute Deutschtümelei?
Wie bei allem kommt es auf das Maß an. Fremdwörter waren oft eine Bereicherung für die deutsche Sprache. Manchmal nimmt es aber überhand, etwa im 19. Jahrhundert mit der französischen Allamodesprache oder heute mit der Vielzahl an unsinnigen englischen Begriffen.

Etwa wenn Jugendliche heute „literally“ alles „random“ für „nice“ befinden …
Es überschreitet die Grenzen zum Lächerlichen. Jugendliche dürfen das, meine Töchter reden auch lieber von „Skincare“, weil das schicker klingt als Hautpflege. Doch bereits hier greift eine gewisse kapitalistisch motivierte Verschleierungsabsicht. Wenn Politiker „Pushback“ sagen, aber das Zurückdrängen von Asylsuchenden meinen, ist das eine bewusste Verschleierung der eigentlichen Bedeutung. 

Laut Umfragen lehnen über 80 Prozent der Deutschen die gendergerechte Sprache ab. Wie hoch stehen die Chancen, dass sie sich dennoch durchsetzt?
Stalin, der in so vielerlei Hinsicht falschlag, hatte in einem Punkt recht. Er wandte sich gegen den Versuch, eine kommunistische Sprache zu kreieren, da die bestehende angeblich von uralten kapitalistischen und feudalen Strukturen geprägt sei. Er sagte, dass Sprache nie im Besitz einer herrschenden Klasse gewesen, sondern in den Kinderstuben einfacher Bauernhäuser weitervermittelt worden sei. Er sollte recht behalten, kommunistische Wortkreationen, wie wir sie in der DDR kannten, sollten nicht von Bestand sein. Ähnlich verhält es sich mit der angeblich patriarchalen Sprache, die durch eine feministische Linguistik ersetzt werden soll. Sprache wurde stets von den Müttern weitergereicht. Diese Frauen waren sicherlich keine Agentinnen des Patriarchats.

Non-binäre Menschen sind jedoch real, was spricht dagegen, neue Pronomen einzuführen?
Ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, die Nöte dieser Menschen nicht anzuerkennen. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es ratsam, das gute alte generische Maskulinum als das anzuerkennen, was es ist: neutral. Was die Pronomen anbelangt, sehe ich vornehmlich das Problem, dass sich davon einfach nichts durchsetzt. Es bringt wenig, die Sprache zu einem juristischen Kampfplatz zu machen. Dorthin geht es aber, Aktivisten drohen schon jetzt damit, Misgendern strafrechtlich verfolgen zu lassen. Ein Hauptproblem ist, dass sich die Betroffenen untereinander nicht einig sind. Sollten sich eines Tages sinnvolle neue Pronomen durchsetzen, spricht nichts dagegen. 

Haben Sie selbst schon einmal einen neuen Begriff kreiert?
Für eine Figur aus einem Film von Lars von Trier habe ich den Begriff „Selbstverwirklichungsdrachen“ erfunden. Außerdem habe ich ein in Vergessenheit geratenes Fremdwort reaktiviert: Sybarit. Das bezog sich auf die Einwohner einer antiken Stadt, die als besonders verfressen galten. Seitdem verwende ich es immer mal für Genussmenschen. Das ist aber mehr die Laune des Feuilletonisten, der ich nun einmal bin. 

„Der große Sprachumbau“, Matthias Heine,  Verlag LangenMüller, 24 Euro

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