Die Jusos wollen Nachverhandlungen, die SPD-Führung verteidigt den Koalitionsvertrag. Nun stimmen fast 360.000 Parteimitglieder darüber ab. Die Pressestimmen.
Zwei Wochen haben die gut 358.000 Mitglieder der SPD ab Dienstag Zeit, über den Koalitionsvertrag mit der Union abzustimmen. Um 8.00 Uhr soll dafür eine Online-Plattform freigeschaltet werden, auf der die Parteimitgleider bis zum 29. April um 23.59 Uhr ihre Stimmen abgeben können. Am 30. April soll das Ergebnis bekanntgegeben werden.
Mit dem Mindestlohn von 15 Euro und der Steuersenkung für geringe und mittlere Einkommen hat die SPD einige ihrer Wahlkampfversprechen im Koalitionsvertrag verankert. Umstritten sind allerdings die geplanten Verschärfungen der Migrations- und Sozialpolitik. Die Führung der Jusos lehnt das Vertragswerk deswegen ab und fordert Nachverhandlungen.
So kommentieren Medien das SPD-Votum zum Koalitionsvertrag
„Münchner Merkur“: „Pünktlich zum Start des SPD-Mitgliederentscheids über eine schwarz-rote Koalition gibt’s vom designierten Kanzler Merz die Blutgrätsche gegen die Genossen. 15 Euro Mindestlohn? Kommt vielleicht erst 2027. Einkommenssteuerentlastung für Geringverdiener? Unter Finanzierungsvorbehalt. Und dann noch der Taurus. Sind das alles mal wieder nur diese typisch Merz‘schen Ungeschicklichkeiten, mit denen er seiner Koalition noch ein paar Steine in den Weg legt? Wohl kaum. In der Unionsspitze herrscht jenseits der öffentlich zur Schau gestellten Gelassenheit Bestürzung über den Umfrage-Crash nach der Wahl. Mit seinem Machtwort will Merz klarstellen, wer Koch ist und wer Kellner in der schwarz-roten Koalition. Und er will den bei Unionswählern entstandenen Eindruck korrigieren, die Wahlverliererin SPD habe ihn am Nasenring durch die Manege gezogen. Er weiß: Ablehnung ist für die SPD jetzt keine Option mehr.“
„Reutlinger General-Anzeiger“: „Angesichts des historisch schlechten Wahlergebnisses der SPD ist die sozialdemokratische Handschrift im Koalitionsvertrag stärker zu erkennen als ihr eigentlich zusteht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es aufgrund der Unvereinbarkeitsbeschlüsse der CDU mit AfD und Linken keine anderen Optionen auf eine Mehrheit im Bundestag gibt als ein Bündnis aus CDU und SPD. Es wäre jedoch fatal gewesen, die daraus resultierende starke Verhandlungsposition der Sozialdemokraten überzustrapazieren. Das Wahlergebnis war ein klares Votum für einen Politikwechsel – insbesondere beim Thema Migration. Ein ‚Weiter so‘ der sozialdemokratisch geprägten Ampel-Politik würde nur die politischen Ränder bei der nächsten Wahl weiter stärken. ‚Verantwortung für Deutschland‘ sieht anders aus. Zum Glück.“
„Neue Osnabrücker Zeitung“: „Es ist nicht nur im Sinne seiner offenbar nachhaltig desorientierten Partei, sondern es liegt auch im Interesse des ganzen Landes, dass Klingbeil seine Leute jetzt aber mal im Deutschlandtempo in den Griff kriegt. Er muss ihnen deutlich machen, dass Friedrich Merz mit seinem ‚Nicht fix‘-Urteil zum Mindestlohn nicht provoziert, sondern nur den Stand der Dinge zutreffend wiedergegeben hat. ‚Wir wissen alle, welche Verantwortung wir tragen‘, hat Lars Klingbeil im Laufe der Koalitionsverhandlungen mehr als einmal gesagt. Wissen es wirklich alle? Das sicherzustellen, so diskret wie zügig, ist nun seine Aufgabe. Lars Klingbeil wollte der Boss sein. Zeit, es zu werden.“
„Stuttgarter Zeitung“: „Unterm Strich haben die Verhandler um SPD-Chef Lars Klingbeil der Basis viele Gründe geliefert, dem Koalitionsvertrag zuzustimmen. Nach der Reform der Schuldenbremse können die Sozialdemokraten so in die Infrastruktur investieren, wie sie es in den vergangenen Jahren gern getan hätten – und es wegen der FDP nicht konnten. Klingbeil hat es geschafft, bei einem desaströsen Wahlergebnis von 16,4 Prozent sieben Ministerien für die SPD zu sichern. Viel spricht dafür, dass Klingbeil selbst Finanzminister wird. Ein Finanzminister hat keine Richtlinienkompetenz, aber ohne seine Zustimmung geht in der Praxis nichts. Umso wichtiger ist es, dass Merz und Klingbeil gut zusammenarbeiten. Die Art, wie Union und SPD den Finanzierungsvorbehalt im Koalitionsvertrag schon jetzt vor allem für die Lieblingsprojekte des jeweils anderen geltend machen, lässt aber nichts Gutes ahnen. Es darf keine neue Koalition des Dauerstreits geben. Sonst werden Wut und Enttäuschung der Bürger riesig sein.“
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Am Koalitionsvertrag lässt sich einiges aussetzen, nur eines nicht: dass er die SPD benachteilige. (…) Das Sahnehäubchen ist die Ressortverteilung: sieben Ministerien für die SPD, so viele gab es nicht einmal zuletzt unter Merkel. Gut verhandelt, Lars Klingbeil: Für eine 16-Prozent-Partei ist das keine schlechte Ausbeute.“
„Der Leidensdruck bei den Menshen ist hoch“
„Frankfurter Rundschau“: „Die Sehnsucht nach einer Regierung, die den Vorwärtsgang einlegt, ist in der Bevölkerung groß. Das liegt daran, dass der Leidensdruck bei den Menschen hoch ist: schlechte Infrastruktur, zu viel Bürokratie, hohe Preise, unzureichend ausgestattete Schulen, schwierige Bedingungen für die Pflege, Sorge wegen der internationalen Lage und, und, und. Dieser Verantwortung müssen Union und SPD gerecht werden. Der Wahlkampf ist vorüber. In der sensiblen Phase zwischen der Einigung auf den Koalitionsvertrag und der Kanzlerwahl sollten die Bündnispartner öffentlichen Streit wie um den Mindestlohn vermeiden. Wer Zwietracht sät, gefährdet das Zustandekommen der Regierung. Union und SPD sagen, sie hätten aus der Ampelregierung und deren Scheitern gelernt. Während die Ampel mit einer Bugwelle namens Fortschritt gestartet ist, zeigt sich das Bündnis aus Union und SPD nüchterner. Gute Politik muss nicht mit hehren Versprechen beginnen. Ab dem 6. Mai lautet die Anforderung: tragfähige Politik, bitte.“
„Märkische Oderzeitung“: „Es gab Sondierungen, Gespräche in Arbeitsgruppen und abschließende Koalitionsverhandlungen. Ein Koalitionsvertrag liegt vor. Warum um alles in der Welt muss das Land jetzt darauf warten, dass sich 358.000 SPD-Mitglieder dafür oder dagegen entscheiden? Auch die SPD hat gewählte Gremien. Genießen die kein Vertrauen? Und sind Genossen, die sich gegen den Koalitionsvertrag entscheiden, gegen alle Punkte oder nur gegen einzelne? Sicher, die anderen Parteien hätten ebenfalls Mitgliederentscheide initiieren können. Dann wären wird jetzt von einer Sechs-Prozent-Partei CSU abhängig. Absurd? Ja, aber nur ein wenig mehr als das, was wir jetzt erleben. Und anders als die CSU würde die SPD vermutlich auch bei sechs Prozent auf einem Mitgliederentscheid bestehen.“