Kolumne: Ganz naher Osten: Kampfzone Ost: Wo Ministerpräsidenten gehärtet wurden

Das spitzenpolitische Dasein ist zuweilen eine Zumutung – und dies insbesondere in Ostdeutschland. Eine Erläuterung am Beispiel des Minderheitsregenten Michael Kretschmer.

Die Morgensonne schien warm, aber nicht zu warm auf die Pyramiden von Gizeh. Ein paar Vögel verrichteten auf dem Kopf der Sphinx ihre Toilette und schwatzten miteinander. Touristen waren noch kaum zu sehen, nur eine kleine Kolonne aus schwarzen Limousinen und weißen Kleinbussen, nebst einem Polizeimotorrad. 

Inmitten dieses weltwunderlichen Arrangements stand ein Mann, der genau so aussah wie der Regierungschef des Freistaats Sachsen, nur dass er ein untypisch entspanntes Lächeln im Gesicht trug. Im Gegensatz zu seinem sonstigen öffentlichen Erscheinungsbild wirkte Michael Kretschmer tatsächlich zufrieden mit sich und dieser absurden Welt. Fast erschien er mir, ja, ich wage ein großes Wort: befreit. 

Doch so schön der Moment auch war, er würde nicht verweilen. Er markierte bloß das Ende einer Dienstreise, die summa summarum 48 Stunden währte, inklusive jener acht Stunden, in denen sich Kretschmer in einen Economy-Sitz von Egypt Air quetschte.

Der Ministerpräsident traf den Premier, den Außenminister und den Bildungsminister, besuchte ein Arbeitsmigrationsprojekt, schaute im Büro der Adenauer-Stiftung vorbei – und, dies war der eigentliche Anlass des Ausflugs, eröffnete die Sächsisch-Ägyptische Universität, die eher, was ausdrücklich kein Schaden sein muss, wie ein IHK-Ausbildungszentrum wirkte und die, so Allah will, demnächst Ingenieure und Ärzte gen Radeberg oder Crimmitschau entsenden soll.  

Dafür also war Kretschmer in blaulichtbegleiteter Eile Hunderte Kilometer durch das Zehn-Millionen-Kairo und seine halbfertigen Millionen-Nebenstädte gezerrt worden. Er hatte Reden gehalten und Interviews gegeben und ansonsten zugehört. Und zugehört. Und zugehört. Dazwischen fingerte er auf seinem Handy herum, um aus der afrikanischen Ferne die östlichen CDU-Interessen im Koalitionsvertrag zu platzieren.

Während ich im Gefolge des Ministerpräsidenten endlos erscheinende Großbaustellen durchquerte oder in tiefgekühlten Ministerialgebäuden fröstelte, beobachtete ich einen Politiker, der zuweilen selbst wie eine Sphinx erscheint. In seinem Hadern und seiner Widersprüchlichkeit will sich dieser Kretschmer einfach nicht in die gängigen Deutungsraster einfügen.

Dies kommt wohl daher, dass sich der Ministerpräsident ebenso unverstanden fühlt wie ein wachsender Teil der Ostdeutschen. In der Hauptstadt gilt er vielen als Putinist, der sich nun auch noch an die ägyptische Militärdiktatur anwanzt. Daheim in der Lausitz wird er verhetzt als Volksverräter, der die Menschen nicht nur bei Corona betrogen habe. Und derweil sich der Ministerpräsident mit Minderheitsregierung und Milliardendefizit herumplagt und ihm die Pegidisten vor seinem Ferienhaus auflauern, begegnet ihm ihn in Berlin der als Frage getarnte Dauervorwurf, warum bitte schön die AfD immer stärker werde. 

Dass Kretschmer darauf immer genervter reagiert, hat er in individuellen Abstufungen gemein mit Reiner Haseloff aus Sachsen-Anhalt, Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern, Dietmar Woidke aus Brandenburg und Mario Voigt aus Thüringen. Sie sind es leid, sich ständig für etwas rechtfertigen zu müssen, das sehr viel mit den Zufällen der Zeitläufte zu tun hat und eher wenig mit den Möglichkeiten ihres Amtes. Und sie empfinden es als mindestens unfair, dass ein Boris Rhein aus Hessen oder ein Markus Söder aus Bayern kaum nach der AfD gefragt wird, obwohl die Partei dort inzwischen bei fast 20 Prozent steht, was noch vor vier, fünf Jahren, als dies nur im Osten der Stand der extremen Dinge war, einen Großskandal dargestellt hätte.

In Betrachtung all dieser Umstände verhält es sich doch so: Nirgendwo in Deutschland ist das politische Geschäft härter als in jenem Gebiet, das vor 35 Jahren der Bundesrepublik beitrat. Und nirgendwo lässt es sich als Regierungschef leichter scheitern. 

Am Anfang geschah alles auf einmal. Der Aufbau der Verwaltung und der Abbau der DDR-Wirtschaft. Die Abwanderung der jungen Menschen und die Zuwanderung der westdeutschen Beamten und Richter. Gleichzeitig reichte schon ein sanft nach Stasi müffelndes Gerücht, um eine politische Karriere zu beenden. 

Parallel zur fortschreitenden Massenarbeitslosigkeit und Deindustrialisierung wurde die PDS immer stärker, womit die erste der Wie-blöd-sind-diese-Ossis-eigentlich-Debatten begann. Seitdem bestand eine zentrale Aufgabe ostdeutscher Politiker darin, westdeutschen Politikern und Journalisten zu erläutern, dass die allermeisten Ostdeutschen unbeschadet ihres teils erratischen Wahlverhaltens nicht die DDR wieder haben wollen oder gar die Nazis, sondern dass sie sich trotz aller Fördermilliarden und Demokratieprogramme zweitklassig und abgehängt fühlten. 

Aber kaum jemand wollte davon hören. Stattdessen kam Hartz IV.

Im Ergebnis regierte die PDS immer öfter mit. In Thüringen übernahm sie als neugewandelte Linke die Staatskanzlei, während der hessische Oberstudienrat Björn Höcke in den Landtag einzog. Mit der AfD wurden die Mehrheiten enger und die Koalitionen instabiler. Mittlerweile gilt es als große Errungenschaft, wenn eine Landesregierung mithilfe der Linke-Abspaltung BSW auf ein parlamentarisches Patt kommt.

Wer im Osten Ministerpräsident ist, lebt ungefähr so abenteuerlich wie ein Zugereister auf einer Fahrt durch das völlig verrückte Verkehrsgeschehen von Kairo. Er muss sich durchwinden zwischen Dogmen, Bundesvorgaben und Abgrenzungsbeschlüssen, um mehr oder minder unpassende Koalitionspartner zu finden, mit denen er dann, wenn es richtig gut läuft, womöglich eine knappe Mehrheit bildet. 

So oder so kann er froh sein, wenn er vom Landtag im zweiten Wahlgang gewählt wird. Die gelegentlichen Ministerpräsidentinnen, sorry, sind ausdrücklich mitgemeint.

Nur die Harten kommen nach Ostdeutschland

Das sogenannte Regieren, das dann folgt, besteht, kurze Ruhephasen ausgenommen, in der Verwaltung des notorischen Geldmangels, der Befriedung des Dauerprotests und der Aufrechterhaltung der ländlichen Infrastruktur. Inzwischen ist auch noch die Verteidigung der demokratischen Institutionen hinzugekommen. 

Wer im Osten regiert, durchläuft einen Härtungsprozess. Und der macht etwas mit den Menschen. Wenn Manuela Schwesig sagt, dass sie nicht in Berlin Ministerin und SPD-Vorsitzende werden könne, weil sie bei der Landtagswahl im nächsten Jahr ihr Mecklenburg-Vorpommern vor der AfD retten müsse, dann mag das ziemlich pathetisch klingen oder vielleicht auch etwas anmaßend. Aber es ist die Beschreibung der Realität.

In Sachsen bedeutet diese Realität etwa, dass Michael Kretschmer es irgendwie schaffen muss, den Landeshaushalt trotz fehlender Milliarden und Stimmen durch den Landtag zu bekommen, mit wem auch immer. Die BSW-Leute werden sich den Weltfrieden wünschen, die Grünen weiter eingeschnappt tun und die reanimierten Linken den Klassenkampf proben, während die AfD bevorzugt daran arbeiten dürfte, alle anderen samt dem sogenannten System maximal vorzuführen.

Falls Sie also, die Sie dies auf dem Gebiet der Bundesrepublik in den Grenzen von 1989 lesen, sich das nächste Mal fragen, warum die ostdeutschen Ministerpräsidenten – und die ostdeutsche Ministerpräsidentin – mitunter ein wenig, nun ja, anders drauf sind als ihre freundlichen Kollegen aus Mainz, Kiel oder Hannover, dann bedenken Sie doch bitte, dass in der Kampfzone Ost andere Bedingungen herrschen.  

Zumindest noch. Denn seien Sie gewiss: Die Ausweitung hat begonnen. 

Alle bislang erschienenen Kolumnen von Martin Debes finden Sie hier.

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