Fast zwölf Millionen Zuschauer sahen am Sonntagabend den neuen Fall des Münsteraner „Tatort“-Duos. Was macht Jan Josef Liefers und Axel Prahl beliebter als andere Krimi-Kommissare?
Eigentlich hatte sich Frank Thiel (Axel Prahl) auf einen freien Abend gefreut. Gerade hatte der Pizzabote eine Capricciosa gebracht, da klingelt sein Nachbar Karl Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) an der Tür: „Wir haben einen Toten.“ Ehe sich der Kommissar noch wundert, warum er nicht selbst angerufen wurde, beugt er sich schon über einen Mann mit einem Beil im Rücken, der sich dann aber als äußerst lebendig erweist: Thiel wurde Opfer eines Pranks und wurde nur unter dem Vorwand hergelockt, um an einer Uni-Party teilzunehmen.
Es wird ein feucht-fröhlicher Abend, im Laufe dessen sich der Gerichtsmediziner Boerne ordentlich abschießen und vor den Augen seiner Studenten zum Affen machen wird, und am Ende der Sause gibt es dann eine Leiche.
„Tatort: Fiderallala“ dominiert den Sonntagabend
Ein typischer Einstieg für das Münsteraner Team: Wieder einmal war das Privatleben der Ermittler Ausgangspunkt für einen neuen Fall. Mit der Verschränkung von Privatem und Beruflichem ist dieser „Tatort“ zum erfolgreichsten Krimiformat im deutschen Fernsehen aufgestiegen. Die Fälle schauen sich mehr Menschen an als alle anderen Formate – nur die Länderspiele der deutschen Fußballnationalmannschaft haben mehr Zuschauer. Auch die gestrige Folge „Fiderallala“ lag beim Publikum wieder mit großem Abstand vorn: Durchschnittlich 11,82 Millionen Menschen verfolgten den aktuellen Fall von Thiel und Boerne, das entspricht einem herausragenden Marktanteil von 42 Prozent. Laut dem Branchenportal „Quotenmeter“ gab es das seit Beginn der „Tatort“-Reihe im Jahr 1970 noch nie. Auch bei den jüngeren Zuschauern in der Altersgruppe von 14 bis 49 war der „Tatort“ aus Münster beliebt, hier betrug die Einschaltquote 31,4 Prozent.
Fast alle Umfragen weisen die Ermittler Thiel und Boerne als Deutschlands beliebtestes „Tatort“-Duo aus. In ihren nunmehr 47 Fällen haben sich die Münsteraner Ermittler ins Herz der deutschen Fernsehzuschauer gespielt. Wie haben die beiden das nur geschafft?
Der wichtigste Baustein des Erfolges besteht in der Chemie zwischen Thiel und Boerne. Die beiden sind ein Paar wie Dick und Doof, Pat und Patachon oder Tünnes und Schäl. Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) ist St.-Pauli-Fan, trinkt am liebsten Bier, läuft in ungewaschenen Kapuzenpullis rum und ist ansonsten ein kumpeliger Typ. Ganz anders Karl-Friedrich Boerne (Jan-Josef Liefers): Der Gerichtsmediziner liebt klassische Musik, ist ein Weinkenner, trägt nur feinsten Zwirn und ist ein vollendeter Snob. Schon blöd, wenn zwei so verschiedene Menschen eng zusammenarbeiten. Noch blöder, wenn sie Tür an Tür wohnen und sich auch sonst ihre Lebenswege ständig kreuzen.
Der Münsteraner „Tatort“ zieht einen großen Teil seiner Popularität aus den Wortduellen zwischen Thiel und Boerne. Ihr Dialogwitz ist einmalig, voller scharfer Pointen und schlagfertiger Erwiderungen. Die beiden zanken sich wie ein altes Ehepaar – eine Leiche bräuchte es eigentlich gar nicht, es wäre schon unterhaltsam genug, den beiden bei ihren täglichen Frotzeleien zuzuschauen. Entsprechend treten die Fälle oft in den Hintergrund und liefern nur die Folie für ein 90-minütiges Gagfeuerwerk.
Mehr als Thiel und Boerne
Um die beiden Ermittler ist ein festes Tableau an Nebendarstellern versammelt. Da ist zum einen die kleinwüchsige Pathologieassistentin Silke Haller (ChrisTine Urspruch), genannt Alberich, die von ihrem Chef regelmäßig gedemütigt wird: „Wenn der Kuchen spricht, schweigt der Krümel“, ist da schon ein Spruch der harmloseren Sorte. „Machen Sie sich mal keine Hoffnung, denn bei der Verleihung des Wissenschaftspreises werden nur die hochrangigsten Persönlichkeiten der Stadt anwesend sein. Und die Betonung, liebe Alberich, liegt dabei auf hoch“, gab Boerne seiner Assistentin in der gestrigen Folge mit.
In jeder Folge dabei ist auch Thiels Vater Herbert (Claus D. Clausnitzer). „Vaddern“ ist ein verpeilter alter Zausel, ein Alt-68er, der sein Geld mit Taxifahren verdient. Was eigentlich kein Problem ist, wäre er nur nicht ständig bekifft. Und dann ist da noch die kettenrauchende Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann), der schon aufgrund ihres hochgewachsenen Äußeren und der tiefen Stimme immer etwas Komisches innewohnt.
Mit diesem überschaubaren Tableau an Charakteren gelingt es, immer wieder neue komische Situationen zu schaffen. Mal erwischt Thiel seinen Vater im Bett der Staatsanwältin Klemm, ein andermal hat Boerne eine Verabredung zum Blind-Date – und trifft dort auf seine Assistentin Alberich.
„Tatort“ aus Münster: Liebevolle Marotten
Es ist das Prinzip der Komplexitätsreduzierung, das hier so trefflich funktioniert: Die Geschehnisse der großen, weiten Welt werden auf wenige Menschen heruntergebrochen. So kommt es, dass Vater Thiel auf irgendeine Weise in fast jeden Fall verwickelt ist. Er war es, der in der aktuellen Folge beim Angeln den abgetrennten Fuß fand. Auch Boernes Privatleben spielt immer wieder in die Fälle rein. Mal geht es um einen Mord in seiner Studentenverbindung, ein anderes Mal ist die Tote eine Jugendfreundin.
Alle Figuren werden mit liebevollen Marotten ausgestattet, die sich durch die einzelnen Fälle ziehen. In jeder Folge wird mindestens einmal Boernes Vorliebe für klassische Musik und Oper thematisiert. Thiels St.-Pauli-Leidenschaft sorgt immer wieder für neue Konflikte. Und in fast jedem Fall sieht man „Vaddern“ Thiel beim Kiffen. Die Zuschauer lieben diese Macken, machen sie doch die Figuren angenehm durchschaubar und die Fälle vorhersehbar. Im Münster-„Tatort“ muss keiner eine böse Überraschung erleben.
Vielleicht liegt genau darin das Erfolgsgeheimnis von Thiel, Boerne und Co.: Keiner wird am Sonntagabend mit den komplexen Problemen dieser Welt überfordert (wie gerne mal im Ludwigshafen-„Tatort“ mit Lena Odenthal), andererseits muss sich hier niemand allzu weit unter seinem Niveau amüsieren.
Das klingt nicht besonders ambitioniert, aber ein Fernsehen, das genau das heute noch schafft, hat schon viel erreicht.