Kolumne: Ganz naher Osten: Ein Verhaltensossi für alle Fälle

Der westöstliche Politiker Bodo Ramelow ist so komplex wie die deutsche Einheit. Als Bundestagsvizepräsident verkörpert er eine unvollständig zusammengewachsene Nation.

Und dann war es am Dienstag einfach so passiert. Der 21. Deutsche Bundestag hatte sein Präsidium gewählt – und erstmals seit 1990 saß darin kein Eingeborener jenes Gebiets, das vor bald 35 Jahren dem Wirkungskreis des Grundgesetzes beitrat. 

Kein Ostdeutscher und keine Ostdeutsche, nirgends. 

Die Absenz wurde erwartbar kritisch reflektiert, und dies ebenso erwartbar ausschließlich von Ostdeutschen. Einige gestanden allerdings das ein, was zuletzt auch ich an dieser Stelle betrübt bilanzieren musste: Ein Großteil der Menschen im Osten hat sich mit seiner Entscheidung für die AfD selbst ins parlamentarische Aus gewählt.

Dabei stellte sogar die Partei, die „Der Osten macht’s“ plakatiert hatte, für das Bundestagspräsidium einen westdeutschen Kandidaten auf. Wäre der AfD-Mann Gerold Otten gewählt worden: Er hätte die westliche Hegemonie nur noch stärker zementiert.

Oder? 

Oder. 

Denn da ist ja noch Bodo Ramelow, der nun für die Linkspartei als Vizepräsident des Bundestags amtiert. Der gebürtige Niedersachse, der in Rheinland-Pfalz aufwuchs und in Hessen zum Gewerkschafter wurde, kam im Februar 1990 nach Thüringen, um zu bleiben. Inzwischen hat er 35 seiner 69 Lebensjahre in Erfurt verbracht und die Metamorphose zum Ossi h. c. abgeschlossen. 

Längst lebt Ramelow die ostdeutsche Identität offensiver als die allermeisten Ostdeutschen. Kaum jemand anderer kann wortgewaltiger die strukturelle Benachteiligung des Ostens beschreiben. Gleichzeitig, und das ist wirklich paradox, fungiert er immer noch als unfreiwilliger Vertreter jenes altbundesrepublikanischen Paternalismus, der vom Glanz-und-Gloria-König Kurt Biedenkopf über den altersmilden Regenten Bernhard Vogel bis hin zum extremen Vereinnahmungsunternehmer Björn Höcke reicht.

Im Ergebnis spiegelt sich die ganze Komplexität des Wiedervereinigungsprozesses in Ramelows Biografie wider. Und sie spiegelt sich wider in seiner schillernden Persönlichkeit, sowohl in seiner chronischen Anmaßung, als auch in seinen nach außen getragenen Selbstzweifeln.

Als ich Ramelow kennenlernte, war das aktuelle Jahrtausend nur wenige Monate alt. Er, der quer eingestiegene Ex-Gewerkschaftssekretär, saß ganz frisch für die PDS im Thüringer Landtag, aber gebärdete sich bereits wie der wahre Oppositionsführer. Er attackierte die allein regierende CDU unter Bernhard Vogel mit bis dahin ungekannter Härte und eröffnete so den Wettkampf zweier westlicher Alpha-Männer. 

Vogel hatte den Antikommunismus der Adenauer- und Kohl-CDU inhaliert. Ramelow war im Marburger DKP-Umfeld politisch sozialisiert worden. Jetzt setzten sie den Klassenkampf der verflossenen BRD in Thüringen fort. 

Ich war Ende 20 und hatte wenig Ahnung von praktischer Politik, gab aber umso nassforscher den hyperkritischen Landtagsreporter. Mein erster Termin sollte ein exklusives Hintergrundgespräch sein, bei dem Ramelow meiner Zeitung Informationen in Aussicht gestellt hatte, wie die Landesregierung EU-Fördergelder zweckentfremdete – was sich später größtenteils bestätigte.

Und dann knallte er die Tür zu

Aber Ramelow mochte nicht mir reden. Er hatte meinen Chef erwartet und wirkte nun sehr eingeschnappt. Nie werde ich vergessen, wie er aus der kleinen, völlig überhitzten Dachkammer, die sein Büro war, mit Furor hinausstürmte und die Tür hinter sich zuknallte. Doch noch während ich versuchte, meine Fassung zurückzugewinnen, kam er schon wieder zurück, stellte sich an eine Tafel und begann, darauf die Firmenbeteiligungen des Landes einschließlich der obskuren Geldflüsse aufzumalen, so, als sei nichts geschehen.

Fortan begegnete mir der Gelegenheitscholeriker Ramelow nebst seinem sensiblen Ego immer mal wieder. Seine innere Permaspannung musste sich in erratischen Abständen lösen, und dann war es auch schnell wieder gut. An diesem Muster hat sich bis heute wenig geändert.

Doch der Politiker Ramelow entwickelte sich. In dem Vierteljahrhundert, in dem ich ihn begleiten durfte (und zuweilen auch musste), wurde aus dem polemisierenden Radikaloppositionellen ein pragmatisch und versöhnlich auftretender Regierungschef. Parallel dazu mutierte der Wessi zum Wossi und schließlich zu jemandem, der nicht nur versteht, wie Ostdeutsche funktionieren, sondern es tatsächlich nachfühlen kann. 

Nur so konnte Ramelow als gebürtiger Westdeutscher die Ost-Partei PDS zu Rekordwerten führen und sie dann als Fusionsbeauftragter zur Linken mitformen. Nur so vermochte er mit SPD und Grünen eine knappe Koalition zu bilden und mit nur einer Stimme Mehrheit der erste und wohl auch einzige Linke-Ministerpräsident aller Zeiten zu werden. Und nur so schaffte er es, sich noch aus seinem Regierungsamt heraus für den Bundestag zu bewerben, um dann souverän seinen Erfurter Wahlkreis zu gewinnen, den einzigen in Thüringen, den nicht die AfD holte.

Nun also sitzt Ramelow im Präsidium des Bundestags, dem Parlament, dem er schon einmal in einem seiner sieben politischen Leben für vier Jahre angehörte. Es ist fest davon auszugehen, dass er in seiner neuen Funktion entschlossener für den Osten eintreten wird, als es die drei ostdeutschen Frauen zuvor gemeinsam taten.

Sie sind halt nur nicht Bodo Ramelow

Das schmälert nichts von dem, was Petra Pau, Katrin Göring-Eckardt und Yvonne Magwas als Vizepräsidentinnen leisteten. Sie sind nur halt nicht Bodo Ramelow. Sie wurden nicht mithilfe der AfD als Ministerpräsident abgewählt und waren, schwuppdiwupp, nur einen Monat später wieder zurück im Amt. Und sie werden natürlich jetzt auch nicht gefragt, wenn Verdi und die Berliner Verkehrsbetriebe jemanden suchen, der ihren wirklich anstrengenden Tarifstreit schlichtet.

Deshalb soll Bodo Ramelow jetzt erst einmal dafür sorgen, dass ich, wenn ich in Berlin bin, nicht mehr streikbedingt vor einer geschlossenen U-Bahn-Station stehen muss. Danach aber hat er seine nächste historische Aufgabe anzugehen. In Abwesenheit von Geburtsossis an der Spitze von Regierung, Parlament und Koalitionsparteien muss er, der Verhaltensossi für alle Fälle, die Repräsentationslücke ganz allein ausfüllen.

Wie ich ihn kenne, traut er sich das selbstverständlich zu. Was denn sonst.

Alle bislang erschienenen Kolumnen von Martin Debes finden Sie hier.

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