DFB-Team in der Nations League: Wer sind wir – und wenn ja, wie viele?

Nach dem beglückend-verstörenden 3:3 zwischen Deutschland und Italien weiß die deutsche Nationalmannschaft nicht, was sie gerade ist: ein Weltklasseteam oder ein Team in Ausbildung. Oder beides?

Dortmund und die deutsche Nationalmannschaft, das ist eine besondere Beziehung. Immer Drama, immer Wallung, die großen Gefühle des Lebens verdichtet in den 90 Minuten eines Fußballspiels. 

2006, das jähe Ende des Sommermärchens, 0:2 im WM-Halbfinale gegen Italien, in den letzten beiden Minuten der Verlängerung. 2023, das erste Spiel nach düsteren Ära Hansi Flick. Mit Händen in den Hosentaschen coacht Rudi Völler die Mannschaft zu einem 2:1 gegen Frankreich. Zum ersten Mal keimt Hoffnung auf, dass die EM 2024 nicht in einem Debakel enden muss. 

2024, EM-Achtelfinale gegen Dänemark. 2:0 gewonnen, aber wie? Zweifelhafte Schiedsrichterentscheidungen, die Fußspitze eines Dänen soll einen halben Millimeter im Abseits gewesen sein beim später annullierten Führungstreffer der Gäste. Eine Szene, die Debatten entfacht, die weit über das Turnierende hinaus geführt werden.

Deutschland gegen Italien: Erste Halbzeit wie ein Rausch

Und auch über das Spiel am Sonntagabend wird noch lange gesprochen werden, das steht schon jetzt fest. Denn eine solch schizophrene, ein solch schaurig-schöne Partie hat die deutsche Nationalmannschaft seit Jahrzehnten nicht mehr geboten. 

Die erste Halbzeit des Nations League-Viertelfinales war ein Rausch. 3:0 nach 45 Minuten. Und das gegen Italien, Europameister 2021, eine Klassemannschaft noch immer. Aber Italien war in der ersten Dreiviertelstunde nicht mehr ein Zitat seiner selbst, zwei halb gefährliche Konter, so lautete die karge Bilanz. „Wir haben sie an die Wand gepresst“, sagte der DFB-Verteidiger Nico Schlotterbeck, und das war noch zurückhaltend formuliert. 

Selten hat man ein deutsches Team so druckvoll spielen sehen, so klug und leidenschaftlich zugleich. Unter Beobachtern wurden in der Halbzeitpause schon die großen Referenzwerte aus der DFB-Länderspielhistorie herangezogen, um den Auftritt am Sonntag zu bemessen: Vom 7:1 gegen Brasilien bei der WM 2014 war bald die Rede, und allen war klar: heute in Dortmund wird wieder Geschichte geschrieben.  

So kam es dann auch. Bloß dass Italien, diese anämische Mannschaft, die eben noch ein Slapstick-Tor kassiert hatte, weil sich die halbe Abwehr gedankenverloren am Kopf kratzte, während Joshua Kimmich einen Eckball auf Jamal Musiala schlug – dieses Italien schrieb an der Geschichte mit. 

Zwei schnörkellose Tore durch Moise Kean, ein Meister der Effizienz mal wieder, ein Elfmeter durch Giacomo Raspadori in der Nachspielzeit, und Dortmund stand unter Schock. Wie 2006, als das feierwütige, mit Ruhrpottpathos übervolle Stadion plötzlich verstummte. Pirlo auf Grosso: 1:0. Gilardino auf del Pierro: 2:0. Alles binnen zwei Minuten. Sudden death. Würde es nun wieder so kommen?

Wer den deutschen Spielern nach dem Schlusspfiff zuhörte, meinte Überlebende eines Autounfalls reden zu hören. Froh, dass bloß das Blech verbeult ist – aber auch grübelnd, wie das denn wohl passieren konnte. Ging alles so schnell. Hmm, was war geschehen? 

Nagelsmann beansprucht die Deutungshoheit über das 3:3 des DFB

Eine schlüssige Erklärung hatte Sonntagnacht niemand, aber alle waren sich einig, dass sich solch ein Crash nicht wiederholen dürfe. „Wir müssen noch sehr viel dazulernen“, sagte Kapitän Joshua Kimmich; demütig waren auch Nico Schlotterbeck („müssen das nächste Mal präsenter sein“) und Antonio Rüdiger („müssen solche Spiele einfach gut runterspielen bis zum Ende“). 

Der einzige, der richtig gute Laune hatte, war Julian Nagelsmann. Ein großartiger Abend sei das gewesen, sagte der Bundestrainer, er könne daraus drei Lehren ziehen. Erstens: „Wir sind in der Lage, einen Rückstand aufzuholen“ (Nagelsmann meinte das 0:1 aus dem Viertelfinal-Hinspiel, das die Deutschen 2:1 gewannen). Zweitens: „Wir können überragend Fußball spielen.“ Drittens: „Wir lernen aus dem Spiel, wie wir stabiler werden können.“ Unterm Strich: „Absolute Weltklasse.“

Damit hatte Nagelsmann die Deutungshoheit an sich gerissen. Er verbuchte das 3:3 kurzerhand als eine Art Sieg.

Und doch gab dieser Abend Anlass zu Zweifeln. 

Nagelsmann hat die Nationalmannschaft emotionalisiert wie kein Bundestrainer vor ihm. Seit den Siegen gegen Frankreich und die Niederlande im März 2024 wird das Team erfüllt von einem Gefühl der Unverwundbarkeit. Dieses Gefühl hat es durch die Heim-EM getragen, bis ins Viertelfinale gegen Spanien. 

Die 1:2-Niederlage gegen den späteren Europameister war schnell verwunden, was auch Nagelsmanns rhetorischen Fähigkeiten zu verdanken ist. In den in den anschließenden Nations League-Partien bot die Mannschaft wieder starke Leistungen; Bosnien-Herzegowina schlug sie gar 7:0.

Aber so leicht, wie sie sich entflammen lässt von ihrem Trainer, so zittrig und wackelig wird sie auch, wenn ihr Rhythmus von einem robusten Gegner gestört wird – das hat das Italien-Spiel gezeigt. So reif, so souverän, so gefestigt wie es in der ersten Halbzeit den Anschein hatte, ist die Nationalmannschaft noch nicht. Angefeuert von einem Publikum wie in Dortmund, kann sie sich an sich selbst berauschen und Höhen erreichen, die sie wohl selbst für unerreichbar gehalten hätte. Was ihr fehlt, ist ein Betriebsmodus, der ohne Endorphin auskommt. Routinen, die funktionieren, egal, wie die eigene Befindlichkeit gerade ist. 

Bald schon wird die Mannschaft jene Resilienz benötigen. Durch den gewonnenen Viertelfinal-Vergleich gegen Italien darf der DFB Anfang Juni die Endrunde der Nations League ausrichten. Im Halbfinale geht es gegen Portugal, in einem möglichen Finale dann gegen Spanien oder Frankreich. 

Dummerweise finden die Spiele nicht in Dortmund statt, sondern in Stuttgart und München. Speziell an Stuttgart hat die Nationalmannschaft weniger gute Erinnerungen. Das Stadion im Stadtbezirk Bad Cannstatt war Schauplatz des verlorenen EM-Viertelfinals. Anlass genug für die Mannschaft, eine neue Geschichte zu schreiben. Dieses Mal mit Happy End.   

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