Friedrich Merz hat in der Frage um die Schuldenbremse sein Wort gebrochen. Eigentlich doch gar nichts Neues, findet unser Kolumnist.
Er war ja auch rührend. Wie er dort stand, sich mit treudoofem Blick bei den Grünen bedankte, unter dem Gelächter des Plenums. Es fehlten nur Blumen und Pralinen. Friedrich Merz erntete das wohlverdiente Ergebnis dessen, was passieren muss, wenn man plötzlich etwas völlig anderes tut als das, was man noch Wochen zuvor unter Getöse vertreten hat. Der Mann, der jetzt also Hunderte Milliarden Sonderschulden lockermachen will, hatte im Wahlkampf noch genau dagegen angekämpft – und jene, die er damals als „grüne Spinner“ geschmäht hatte, sollten mit einem Male als Vernunftmenschen bitte mit ihm und dafür stimmen. Bei einem solchen rhetorischen Handbremsendrift darf man schon mal lachen. Gewiss, mit der Wahrheitsliebe war es im Wahlkampf noch nie weit her – Merz’ Wende aber wirkt wie eine satirische Persiflage dieses Klischees. Denn es wusste sowieso jeder, dass er schon an Tag eins nach dem Urnengang gegenteilig verfahren würde, weil die Umstände kaum anderes zulassen würden.
Insofern: Ist eine Lüge, von der jeder weiß, dass es eine ist, überhaupt noch eine? Oder geht sie schon als Folklore durch? Als notwendiger Wohlfühlsound, ehe die harten Realitäten einsetzen? In der Politik sind wir zwischen Barschels „Ehrenwort“ und Merkels „vollstem Vertrauen“ einiges gewohnt. Kann man einem Helmut Kohl seine „blühenden Landschaften“ im Osten wirklich vorwerfen, wenn er sie sich selbst geglaubt hatte? Wo endet die individuelle Wahrheit, und wo beginnt die gute, alte, räudige Lüge? Es stehen schließlich die wenigsten morgens auf und entscheiden sich dafür, ihr Gegenüber möglichst kunstfertig zu bescheißen. Der republikanische Senator, der jahrelang gegen Homosexualität gewettert hat, nur um eines Tages mit einem Stricher von der Polizei erwischt zu werden – wollte der die Menschen hinters Licht führen? Oder bloß ein möglichst lautes Dröhnen erzeugen, um die inneren Stimmen nicht mehr hören zu müssen? Es heißt, der Mensch lüge am Tag knapp 200-mal. Nicht wenige Male davon bilden das Schmieröl im sozialen Getriebe.
„Schön, dich zu sehen!“
„Macht doch nix.“
„Nee, setz dich gerne dazu!“
Gute gelogen währt am längsten
Wie viel grausamer wäre unsere Gesellschaft, wenn wir derlei Geschmeidigkeiten nicht im Gepäck hätten? Aufrichtig ist das nicht, nein. Aber in der Bäckerei wird man doch lieber begrüßt mit einem falschen „Herzlich willkommen“ als dem ehrlicheren „Verpiss dich, ich bin gerade auf Instagram“. Der Journalist Jürgen Schmieder hat vor ein paar Jahren ein Buch geschrieben über seinen Selbstversuch, 40 Tage lang ausschließlich die Wahrheit zu sagen. Sogar einen guten Freund musste er dafür unter den Bus werfen, als er dessen Frau wahrheitsgemäß mitteilte, ihr Mann betrüge sie. Am Ende hatte Schmieder seinen Bestseller – und einen Freund weniger.
Ist Ehrlichkeit tatsächlich die beste Lebensform? Auch ich habe den Anspruch, ein Leben zu führen, in dem Aufrichtigkeit das Leitmotiv ist. Es gelingt mir sogar meist, glaube ich. Vielleicht, weil ich weiß, wie viel Kraft es kostet, zu lügen. Roger Moore sagte einst: „Ich gebe ungern Interviews, weil ich immer Schwierigkeiten habe, mich an die Lügen zu erinnern, die ich beim letzten Mal erzählt habe.“ Wer nicht lügt, reist mit leichterem Gepäck. Und Friedrich Merz? Da möchte ich den großen Philosophen Homer (Simpson) zitieren: „Marge, zum Lügen gehören immer zwei. Einer, der lügt. Und einer, der’s glaubt.“
Wir haben es wahrscheinlich nicht besser verdient.