DFB-Team: Warum Nagelsmann im deutschen Tor auf Oliver Baumann setzt

Oliver Baumann wird in der Nations League gegen Italien im DFB-Tor stehen. Er soll keine Ära prägen, sondern ein ungewohntes Vakuum im deutschen Fußball füllen.

Wer sein erstes Länderspiel für die Fußballnationalmannschaft bestreitet, wird beschenkt. Nach dem Debüt gibt es vom Deutschen Fußball-Bund eine Medaille zur Erinnerung an den besonderen Tag. Als Oliver Baumann 2020 erstmals zum Nationalteam eingeladen wurde, war auch für den Torhüter eine Plakette vorbereitet worden. Allerdings blieb sie lange in einem Koffer. Über vier Jahre hinweg schleppten DFB-Mitarbeiter ihn immer wieder mit zu den Spielen, ohne Baumann am Ende die Medaille überreichen zu können. Der Torwart kam nicht zum Einsatz. Baumann war die Nummer drei im deutschen Tor, der Ersatz des Ersatzes, ein ewiger Reservist.

Wahrscheinlich würde die Plakette noch heute im Koffer liegen, wäre die deutsche Torwarthierarchie nach der Europameisterschaft nicht grundlegend durcheinandergewirbelt worden. Manuel Neuer, 15 Jahre Stammtorhüter, beendete nach der EM seine Nationalmannschaftskarriere. Dann verletzte sich Thronfolger Marc-André ter Stegen schwer. 

Zwei Torhüter von Weltklasseformat – plötzlich weg. Oliver Baumann, 34, seit einem Jahrzehnt unter Vertrag bei der TSG Hoffenheim, aber ist noch da. 

Nagelsmann spricht von einer „Millimeterentscheidung“ pro Baumann

Nach seinem Länderspieldebüt im Herbst vergangenen Jahres geht Baumann nun als Nummer eins in die beiden Partien gegen Italien im Viertelfinale der Nations League. Bundestrainer Julian Nagelsmann gibt ihm den Vorzug vor Alexander Nübel, 28, vom VfB Stuttgart. „Eine Millimeterentscheidung“ sei es gewesen, sagte Nagelsmann am Mittwochabend auf der Pressekonferenz vor dem Hinspiel in Mailand (Donnerstag, 20.45 Uhr). Er sehe „den Tick mehr Konstanz über einen längeren Zeitraum“ bei Baumann.

Nagelsmann muss auf der Torwartposition derzeit improvisieren wie nur wenige Bundestrainer vor ihm. Er setzt dabei auf Erfahrung. Baumann strahlt die Ruhe eines Torhüters aus, der auf rund 500 Profispiele zurückblicken kann. Nagelsmann kennt Baumann schon lange, zu Beginn seiner Laufbahn trainierte er ihn in Hoffenheim. Er weiß, was er von ihm erwarten kann. Dass Baumanns Spiel kaum Schwankungen kennt. Dass ihm Fehler wie jener am vergangenen Bundesliga-Wochenende, als sein Fehlpass in der Spieleröffnung zu einem Gegentor führte, nur selten unterlaufen. Dass man von ihm allerdings auch eher keine Wunderdinge erwarten sollte.

Baumann ist seit Jahren ein verlässlicher Rückhalt eines Mittelklasseklubs in der Bundesliga, internationale Erfahrung aber hat er kaum. Der Bundestrainer dürfte in ihm eine Zwischenlösung sehen. Seine Einsatzgarantie gilt zunächst für die beiden Spiele gegen Italien. Nagelsmanns Entscheidung ist eine für den Moment, keine für die Zukunft. Ein neuer Neuer wird aus Baumann nicht mehr werden. Er soll keine Ära prägen, sondern ein akutes Vakuum füllen.

Deutschland, Torwartland, das war einmal?

Dass erst kurz vor einem nicht unwichtigen Länderspiel feststeht, wer die Nummer eins ist, weil der Bundestrainer zwar mehrere gute, aber keine herausragenden Torhüter zur Auswahl hat, schien lange undenkbar und rüttelt an den Gewissheiten der Fußballnation. Sorgen konnte man sich vielleicht um einen fehlenden Mittelstürmer, um mittelmäßige Außenverteidiger oder eine Zeitlang gar um einen rumpeligen Spielansatz. Aber egal wie schlecht es um das DFB-Team in den vergangenen Jahrzehnten auch bestellt war, hinten wachte meist ein außergewöhnlich guter Schlussmann. Oft gab es davon nicht nur einen, sondern mindestens zwei. Der Nachschub an Spitzentorhütern schien selbstverständlich, und so stritt die Nation darüber, wer zwischen die Pfosten gehörte. Um den Platz im deutschen Tor entsponnen sich Kleinkriege, die erbittert ausgefochten wurden.

Hans Tilkowski gegen Wolfgang Fahrian in den 1960er-Jahren. Toni Schumacher gegen Uli Stein in den 80ern. Bodo Illgner gegen Andreas Köpke in den 90ern. Oliver Kahn gegen Jens Lehmann in den Nullerjahren. Allein Marc-André ter Stegen, 32, ertrug zuletzt über Jahre mit Fassung das Schicksal, als Weltklassetorhüter nur Nummer zwei seines Landes zu sein. 

Nun, da Manuel Neuer seine DFB-Karriere beendet hat, sollte eigentlich ter Stegens Zeit kommen. Doch seit Herbst laboriert er an einem Riss der Patellasehne. Wann er auf den Platz zurückkehrt, scheint offen. Ebenso die Frage, wie schnell und ob er überhaupt wieder zur alten Form zurückfinden wird.

Gegen Italien steht mit Baumann nun ein Mann im deutschen Tor, der nicht in der Champions League spielt und sein Geld weder bei den Bayern noch bei Barcelona verdient, sondern bei Hoffenheim. Und natürlich meinen manche darin gleich einen Ausdruck einer neuen Problemlage im deutschen Fußball zu erkennen. Deutschland, Torwartland, das war einmal?

„Ich glaube schon, dass wir in Deutschland gerade so etwas wie ein kleines Torwartproblem haben“, sagte Rekordnationalspieler und Fernsehexperte Lothar Matthäus. „Neuer nicht mehr da, ter Stegen verletzt – und die anderen haben noch nicht so überragenden Leistungen gezeigt, wie man sich das wünschen würde.“ Der Boulevard spekuliert längst über eine Rückkehr von Neuer ins DFB-Tor, für den Fall, dass ter Stegen bis zur Weltmeisterschaft im kommenden Jahr nicht fit und in Form sein sollte. Neuer wäre bei der WM 40 Jahre alt. Dass eine mögliche Rückkehr nun überhaupt diskutiert wird, sagt nicht nur etwas über die mediale Sehnsucht nach einem Übertorwart aus, sondern auch über den Mangel an deutschen Toptalenten auf der Position. 

In der Bundesliga setzen viele Klubs seit einigen Jahren im Zweifel lieber auf einen erfahrenen Schlussmann aus dem Ausland. Junge Torhüter bekommen selten die Chance, regelmäßig zu spielen. Unter den aktuellen deutschen Stammtorhütern in der Bundesliga gibt es nur einen unter 26 Jahren, Noah Atubolu vom SC Freiburg. Der Verein hielt trotz wackliger Auftritte in seiner ersten Saison an ihm fest und wurde belohnt. Zuletzt blieb Atubolu in sechs Spielen in Folge ohne Gegentor. Viele sehen in dem 22-Jährigen inzwischen einen künftigen Kandidaten fürs deutsche Tor.

Nagelsmann fordert mehr Mut in Torwartfragen

Auf der Pressekonferenz in Mailand am Mittwochabend rief Nagelsmann die Bundesliga-Trainer dann auch zu einem mutigeren Umgang mit deutschen Torwarttalenten auf. Er wünsche sich, dass häufiger junge Torhüter Fehler machen und an ihnen wachsen dürften, ohne gleich abgesägt oder von den Medien gescholten zu werden.

Wozu das führen kann, wenn einem Torwarttalent schon früh vertraut wird, lässt sich seit Jahren beim deutschen Nations League-Gegner beobachten. Gianluigi Donnarumma machte sein erstes Profispiel mit 16, ein Jahr später spielte er schon für das italienische Nationalteam. Auch in wechselhaften Phasen hielt man an ihm fest. Heute ist Donnarumma, 26 Jahre alt, einer der Besten seines Fachs.

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